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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
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Spur von Mitleid. »Dicks Frau ist mit der Scheidung einverstanden.«
    Harry sagte nichts.
    »Bitte reg dich nicht auf«, fuhr Susan fort. »Wir haben doch alle gewusst, dass es so kommen würde.«
    Immer diese gottverdammte Ehrlichkeit, dachte er. Egal, sie hatte recht. Sie hatte ihm von Anfang an gesagt, dass es so enden würde, und er hatte es nur nicht wahrhaben wollen.
    »Dick sagt, es sei nur eine Frage von Wochen, bis alle gehen müssen. Dann wäre es ohnehin vorbei gewesen mit uns. Das musst du doch verstehen.«
    Aber er hatte es nicht verstanden. Irgendwie hatte er sich eine gemeinsame Zukunft ausgemalt, mit Susan an seiner Seite, vielleicht sogar mit Kindern und das alles an einem weit entfernten Ort. Die Idee war nicht richtig durchdacht, dennoch tat es ungeheuer weh, sie aufzugeben.
    »Wir sehen uns sicher noch einmal, bevor es vorbei ist«, sagte Susan, als ginge es um ein Ferienlager und nicht um den Zusammenbruch einer ganzen Nation.
    »Ja, sicher«, erwiderte Harry.
    Und damit war es vorbei.
Hawaii
    Als Harry auf dem Boden kniete und unter seinem Bett nach der Metallkassette tastete, die er beim Einzug dort versteckt hatte, versuchte er, den unerbittlichen Schmerz in Rücken und Knien zu ignorieren. Früher hätte er gar nicht lange darüber nachgedacht, begriff nun aber, dass er ohne Hilfe vielleicht nicht wieder hochkommen würde.
    Das war das eigentliche Elend des Alterns, dachte er, die Wahrheit, die einem keiner verriet: Man wurde überraschend schnell gebrechlich. Für Männer war es wohl noch schlimmer. Bei Frauen begann der Verfall des Körpers schon früher, mit Schwangerschaft und Geburt, während sich Männer länger in der Illusion ewiger Jugend wiegen durften.
    Harry tastete mit der rechten Hand nach der Kassette, die viel weiter unter dem Bett stand, als er gedacht hatte. Das war eine blöde Idee gewesen. Er legte sich bäuchlings auf den Boden und verdrehte den Körper, damit er beide Arme unters Bett schieben konnte. Im Ernstfall reichte das Versteck nicht aus, aber in der Eigentumswohnung eines Rentners gab es nicht gerade viele Orte, an denen man etwas verbergen konnte.
    Unbeholfen zog Harry die Kassette unter dem Bett hervor, rollte sich auf den Rücken und schaute einen Moment lang zur Decke, bevor er sich mit aller Kraft hochstemmte.
    Die Kassette selbst war nicht weiter auffällig, ein handelsüblicher feuerfester grauer Kasten, den er für dreißig Dollar im Bürohandel in Kailua gekauft hatte. Die meisten Einbrecher hätten sich wohl gar nicht die Mühe gemacht, sie aufzubrechen – in solchen Kassetten bewahrten Leute gewöhnlich Geburtsurkunden und Testamente auf, Dokumente, die für Außenstehende wenig Wert besaßen.
    Die Kassette war mit einer dicken Staubschicht bedeckt und offenbar nicht angerührt worden. Dennoch machte Harrys Herz einen Sprung, als er die Zahlenkombination einstellte und den Deckel öffnete. Fast sein ganzes Leben lang hatte er einen Plan für den Notfall gehabt, einen Fluchtweg, den er nehmen konnte, falls es zu brenzlig wurde. Als er auf die Insel zog, hatte er sich gesagt, damit sei es nun vorbei, an diesem Punkt seines Lebens könne er unmöglich weglaufen. Und doch hatte er die Idee nie ganz aufgegeben, wofür er heute dankbar war.
    In der Metallkassette lagen verschiedene Dokumente: Pässe, Führerscheine und eine Handvoll passender Kreditkarten. Ganz unten ein Bündel Hundertdollarscheine, insgesamt hundert. Zehntausend Dollar für schlechte Zeiten.
    Harry nahm das Geld heraus, befühlte es und legte es beiseite. Dann holte er einen der Pässe heraus, mit dunkelblauem Umschlag, versehen mit dem aufwendigen kanadischen Prägesiegel. Für Kanadier interessiert sich keiner, hatte Harrys alter Freund Eduardo Morais gesagt, als er das Dokument bei ihm in Auftrag gab. Das war vor beinahe fünf Jahren gewesen. Inzwischen existierte Morais wie so viele Menschen, die Harry als seine Freunde bezeichnet hatte, nur noch in seiner Erinnerung.
    Harry klappte den Pass auf und betrachtete sein Gesicht. Er hatte die Zähne und das Kinn eines alten Mannes, das Fleisch war erschlafft von Alter und Alkohol. Ein Wunder, dass Char ihn haben wollte, dass ihn überhaupt irgendeine Frau wollte.
    Wie aufs Stichwort drehte sich der Schlüssel im Haustürschloss. Harry klappte eilig den Pass zu und stopfte ihn mitsamt dem Geld in die kleine Reisetasche, die fertig gepackt war. Dann schob er die Kassette wieder unters Bett.
    »Hallo, Geliebter!«, hörte er Char rufen. Dann

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