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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
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auseinander und blieb an dem X hängen, mit dem Kurtz die südlichen Vororte markiert hatte. »Noch ein bis zwei Kilometer«, schätzte sie und schaute sich nach besonderen Anhaltspunkten um.
    »Gut«, sagte Kurtz knapp und sah aus dem Fenster. Die Sonne stand schon tief am Himmel.
    Bald würde es dunkel. Es war eine Sache, sich tagsüber als Fremder in Casablanca zu bewegen, doch nach Sonnenuntergang sah das völlig anders aus. Wenn sie das Waisenhaus nicht bald fänden, würden sie wohl oder übel bis zum nächsten Morgen warten müssen.
    »Was machen wir mit Jamal?«, drängte sie.
    Kurtz richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. »Kommt drauf an, was er uns erzählt.«
    Eine seltsame Antwort. Hier ging es um jemanden, der in Gefahr schwebte, dachte Kat. »Aber es muss doch einen Plan geben. Um ihn hier herauszuholen, meine ich. Nehmen wir ihn mit zurück?«
    »Ja«, erwiderte er zerstreut. Dann drehte er sich demonstrativ zu ihr und fixierte sie wie jemand, der eine Lüge tarnen will. »Es ist alles arrangiert. Wir nehmen ihn mit.«
    Trotz ihrer Ausbildung und den Erfahrungen in der Verhörkabine konnte Kat nicht immer einschätzen, ob jemand die Wahrheit sagte. Diesmal jedoch war sie sich ganz sicher, dass Kurtz sie belog. Sie war nicht überrascht, wohl aber verblüfft angesichts der Unbekümmertheit, mit der er log. Er hielt sie für unfähig. Das war die schlimmste Form von Hochmut.
    »Jetzt?« Er fuhr langsamer.
    Kat blickte auf die Landkarte. »Ja. Du musst hier runter.« Kurtz riss das Steuer herum und bog von der Autobahn in ein Industriegebiet mit elenden Sozialbauten. In der Ferne ragte ein eckiges graues Gebäude empor. Fünf Stockwerke und fast so lang wie ein Fußballplatz. Ein Gefängnis, dachte Kat spontan, etwas anderes konnte es gar nicht sein. Dann fiel ihr ein, wie Jamal Ain Chock beschrieben hatte, und sie begriff, dass der Junge die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens an diesem Ort verbracht hatte.
Afghanistan 2002
    Es war schon nach Mitternacht, als Kat und Hariri in der Verhörkabine fertig waren und ins Zentrum zurückkehrten. Die Gefangenen in den Käfigen lagen im Bett. Trotz des gnadenlosen Scheinwerferlichts von der Decke und der halbautomatischen Waffen, die auf sie gerichtet waren, schliefen die meisten fest. Kat hatte die Szene schon oft gesehen, fand sie aber immer wieder beunruhigend: die Männer auf ihren Pritschen unter den synthetischen Decken, wie Astronauten sie benutzten; Knie und Arme angewinkelt, um sich vor der Kälte zu schützen; den Rücken zur klassischen Embryonalhaltung gekrümmt, als befänden sie sich in einer Metamorphose.
    Nach der Intimität der Kabine überwältigte sie das Chaos im Verhörzentrum. Die Leute von der Nachtschicht wandten die verrücktesten Taktiken an, um wach zu bleiben. Bei Gefangenen hätten sie vermutlich den Tatbestand der Folter erfüllt. In dieser Nacht bestand die Strategie unter anderem darin, den Song »American Idiot« von Green Day in einer Lautstärke zu spielen, mit der man gewöhnlich Geständnisse hochrangiger Al-Qaida-Mitglieder erzwang. Kat kam sich plötzlich unglaublich alt vor.
    Eine kleine, lärmende Gruppe – nicht nur Verhörspezialisten, sondern auch MP und einige Zivilisten, darunter Kurtz – drängte sich um einen Bildschirm. Vermutlich vertrieben sie sich die Zeit mit einem der endlosen und unendlich komplizierten Computerkriegsspiele, wie die jungen Soldaten sie liebten.
    Um einen klaren Kopf zu bekommen, besorgte sich Kat eine Tasse Kaffee, mit dem man Tote hätte aufwecken können. Dann setzte sie sich an einen freien Computer, um ihren Verhörbericht zu tippen. Kurtz’ Anblick erinnerte sie an die Begegnung im Lager der Spezialkräfte, und sie gestattete sich einen Gedanken an Colin. Es ließ ihr keine Ruhe, dass sie im Streit auseinandergegangen waren. Sie hatte gehofft, es noch einmal ins britische Lager zu schaffen, um sich mit ihm auszusprechen, doch die Aussichten waren gering. Es würde eine lange Nacht werden, mit oder ohne Green Day.
    Die Gruppe vor dem Bildschirm stieß einen kollektiven Triumphschrei aus. Kat blickte hoch.
    »Sie sind drin!«, rief ein MP aufgeregt und klatschte im Testosteronrausch mit den anderen ab.
    Als die Männer etwas beiseitetraten, erhaschte Kat einen Blick auf den Bildschirm. Geisterhafte Gestalten bewegten sich in Formation durch die Nacht. Das war kein Spiel. Sie kannte das körnige Bild von den wenigen Aufnahmen, die sie während der Operation Anaconda in

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