Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
Vom Netzwerk:
Krieg.

 
Marokko
    Nichts. Kat blieb vor dem Tor stehen und schaute auf die Ödnis von Ain Chock – die zerbrochenen Fensterscheiben und verschlissenen Planen, die Müllfeuer, die in den engen Durchgängen brannten. Jamal hatte es ihr erzählt, doch sie hatte nichts verstanden.
    Sie haben uns geschlagen, hatte er einmal über seine Kindheit im Waisenhaus gesagt, und Kat hatte gedacht, natürlich haben sie euch geschlagen. Als sie Kurtz nun in das stinkende Labyrinth der Hüttensiedlung folgte, fielen ihr die Worte des Jungen wieder ein. Sie haben ihn geschlagen, dachte sie, doch die Schläge wirkten banal angesichts der ungeheuren Brutalität des Ortes.
    Slums in der Dritten Welt können für Außenstehende sehr gefährlich sein, vor allem, wenn sie wohlhabend wirken. Kat hatte sich auf eine Konfrontation vorbereitet. Nun aber begriff sie, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Die Bewohner waren die Ausgestoßenen der Ausgestoßenen, die Alten und Kranken und Geistesschwachen, denen man die Lebenskraft entzogen hatte wie einer Orange den Saft. Ihre schlaffen Gesichter folgten Kat und Kurtz mit ruhigem Interesse.
    Irgendwo verbrannte jemand Scheiße. Der üble, wohlbekannte Gestank erinnerte sie an die Monate in Kandahar, an die öde Mondlandschaft. Erst jetzt begriff sie, dass dort eine ganz eigene Symmetrie geherrscht hatte. Die vollkommene Leere der Landschaft hatte sich in ihrem Inneren gespiegelt, das blankgescheuert war von Zorn und Trauer, das nach Rache stank.
    Das Waisenhaus selbst schien nicht bewohnt zu sein und sah auch völlig unbewohnbar aus. Durch die zerbrochenen Fenster im Erdgeschoss blickte man auf Müllberge, umgedrehte Matratzen und schwarz verschimmelte Wände. Als sie und Kurtz sich der Tür näherten, traten zwei junge Männer aus dem heruntergekommenen Gebäude, die bündelweise Elektrokabel bei sich trugen.
    Wie viel erhofften sie sich dafür? Mit etwas Glück bekämen sie ein paar Dirham auf dem Müllmarkt, nicht einmal genug, um die nächste Mahlzeit zu kaufen.
    Sie waren etwa in Jamals Alter. Der mit der roten Trainingshose und dem grüngelben Trikot sah aus wie ein Fußballer, der andere erinnerte an einen Gangster aus New Jersey in Jeans und Lederjacke. Kat wollte sie schon ansprechen, als sie Kurtz’ ungelenkes Arabisch hörte.
    »Hey! Ihr da! Was macht ihr da?«
    Die beiden Plünderer blickten auf, schauten flüchtig von Kat zu Kurtz. Verlegen fingerten sie an ihrer Beute herum und gingen dann weiter.
    »Hey!«, rief Kurtz noch einmal, doch Kat legte ihm die Hand auf den Arm.
    Sie nickte und begrüßte die beiden jungen Männer lächelnd auf traditionelle Weise. Zum Glück trug sie noch das Kopftuch, das sie an der Tankstelle gekauft hatte. Vielleicht würde es ihr ein wenig Achtung verschaffen.
    Die beiden blieben stehen, ohne den Gruß zu erwidern.
    »Brüder«, fuhr sie in versöhnlichem Ton fort. »Vielleicht könnt ihr uns helfen. Wir suchen einen Freund, er ist etwa in eurem Alter. Sein Name lautet Jamal.«
    Der Fußballer fingerte an seinen Kabeln herum. »Hier ist keiner, der so heißt«, entgegnete er heftig.
    »Ganz sicher nicht?« Kat schaute zu dem Mann in der Lederjacke hinüber. Er war ein wenig zurückgewichen und fixierte Kat mit hartem Blick, in dem eine sexuelle Andeutung lag. War es der Blick eines Menschen, der etwas sagen wollte, aber nicht konnte?
    »Wir sind bereit, unsere Dankbarkeit zu beweisen«, warf Kurtz ein.
    Ja, dachte Kat, als die Augen des Mannes in der Lederjacke aufleuchteten; er würde ihnen sagen, was sie wissen wollten. Aber nicht hier und nicht jetzt.
    »Wir können Ihnen nicht helfen«, sagte der Fußballer und wandte sich zum Gehen.
    Der zweite Mann wollte ihm folgen, warf Kat aber noch einen letzten Blick zu. Es war wie die Verständigung zwischen Liebenden, zwei Menschen, die sich zueinander hingezogen fühlen, ihre Sehnsucht aber nicht offen zeigen können.
    Dann waren die beiden im dunklen Mund des Labyrinths verschwunden, tief in den stinkenden Eingeweiden des Slums.
    Kat schaute zum Himmel. »Es wird dunkel.«
    »Ja«, sagte Kurtz unzufrieden. »Wir sollten gehen.«

23
Vietnam 1975
    »Wie heißt es doch gleich über den Monat März? Hinein wie ein Löwe, hinaus wie ein Lamm – oder war es umgekehrt?« Janson versuchte vom eigentlichen Grund seines Anrufs abzulenken: dass es Zeit war, die Sachen zu packen und abzuhauen. »Ich kann es mir einfach nicht merken.«
    »Das Erste, glaube ich«, sagte Harry. »Hier oben sieht der März

Weitere Kostenlose Bücher