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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
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diese vollkommene Mischung aus Verletzlichkeit und Verlockung. »Sicher ist alles in Ordnung«, sagte er und hasste sich selbst dafür.
    »Nein«, beharrte sie. »Es ist etwas passiert. Das weiß ich genau.« Sie holte tief Luft, als wollte sie ins Wasser tauchen. »Wenn du nur hinfahren könntest. Einfach hinfahren und nachsehen.«
    Harry lachte. »Das ist nicht dein Ernst.«
    War es aber doch. »Bitte, Harry.« Sie weinte wieder, kurze, bebende Schluchzer.
    Eine Stunde hin, eine Stunde zurück, überlegte er. So lange würde die Rundreise nach Cam Ranh dauern. Doch er konnte nur an Susans Mund beim Sex denken, wie sich ihre Lippen öffneten, als er in sie eindrang. Eine Stunde hin, kurz in Cam Ranh umschauen, dann wieder zurück. Natürlich war es keine rationale Entscheidung. Ihm blieb gar keine Wahl. Nie hätte er ihr die Bitte abgeschlagen.
    »Bitte, Harry, ich habe Angst.«
    Er schaute sich im Büro um, betrachtete die Aktenschränke aus Metall und die Papierstapel auf seinen Schreibtisch. Eigentlich war gar nicht so viel zu erledigen, wie er gedacht hatte. Streichholz daranhalten, fertig, aus.
    »Okay, ich fahre hin.«

 
Virginia
    Das Flugzeug schwebte sanft über die Alleghenies und die smaragdgrüne Wiege des Shenandoah Valley.
    Der Pilot hatte ihnen gleich nach dem Start mitgeteilt, dass es ein perfekter Tag zum Fliegen sei. Besser geht’s nicht, hatte er verkündet, als sich die 737 in die wüstengedörrte Luft von Phoenix erhob, wo Harry umgestiegen war. Dennoch stieg ihm gallenbittere Angst in die Kehle, sowie sich das Motorengeräusch veränderte oder die Tragflächen erzitterten. Er war nie gern geflogen, es fehlte ihm an Vertrauen in diese Geräte. Als sich der Boden dem Flugzeug entgegenwölbte, schloss er die Augen und betete zu allen Göttern, an die er nicht glaubte, dass das Ende wenigstens schnell kommen möge. Dann berührten die Räder die Landebahn, die gigantische Maschine setzte hüpfend auf, widerstand ein letztes Mal der Schwerkraft, und dann waren sie gelandet.
    Es war erstaunlich einfach gewesen, Morrows Männern zu entkommen. Am Vorabend war Harry um kurz nach neun nach Kailua gefahren, hatte seinen Wagen auf dem Gästeparkplatz des King Kamehameha abgestellt und war in die Hotelbar gegangen. Zwei überteuerte und geizig bemessene Martinis später hatte er in der Toilette seine äußere Kleidungsschicht gegen ein buntes Touristenhemd und Bermudashorts ausgetauscht. Dann hatte er sich mit einem Dutzend sonnenverbrannter Deutscher und zwei schlechtgelaunten Flitterwöchnern, die einander nicht ein einziges Mal berührten, in den kostenlosen Pendelbus zum Flughafen gequetscht und den Nachtflug aufs Festland genommen.
    Nun, vierzehn zeitverschobene Stunden später, war er angekommen. Dabei hatte er sich geschworen, nie wieder an diesen Ort zurückzukehren. Die Wiege und das Grab all seines Kummers. Die Maschine kam zum Stehen, und Harry schälte sich aus seinem Sitz, wobei er flüchtig den kanadischen Pass in seiner Brusttasche berührte.
    Du bist nicht mehr Harry Comfort, mahnte er sich, als er ausstieg und das Flughafengebäude betrat. Du bist jetzt ein anderer Mann. Der Harry mit dem blöden Grinsen und den schlechten Witzen. Der Harry, der mehr als dreißig Jahre Landwirtschaftsbedarf verkauft und genug verdient hat, um sich die Welt anzusehen. Der Harry mit dem üblichen Touristenkram in der Tasche. Ein zerfledderter Kassenbon über Sonnenmilch und Plastiksandalen. Eine zerlesene Broschüre mit Angeltrips von Captain Cook aus. Die Rufnummer eines Begleitservice in Kailua-Kona, oft betrachtet, nie benutzt.
    Harry Lyttle, so stand es im Führerschein und auf der Kreditkarte, die er der Frau in der Mietwagenfirma über die Theke schob. Harry Lyttle aus Regina, Saskatchewan. Harry Sorglos.
Marokko
    Ein wunderschöner Tag. Das waren die ersten Worte, die jemand gesprochen hatte, als machte es die Ereignisse noch schlimmer. Als würden der blaue Himmel und die unendliche Klarheit, vor der sich alles abgespielt hatte, das Grauen noch vergrößern.
    Wenn es ganz schlimm kam, lag Kat frühmorgens wach, während der Wecker unbarmherzig weitertickte. Dann sah sie wieder und wieder das strahlende Blau, in das Max gesprungen wäre.
    Wie so viele Menschen, die damals jemanden verloren hatten, hatte auch Kat nach Hinweisen auf den Tod ihres Bruders gesucht. Noch lange danach hatte sie sich im Internet die Fotos herabstürzender Körper angesehen, hatte gehofft und befürchtet, Max zu entdecken.

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