Verschärftes Verhör
Schließlich war er nicht der einzige Ausländer in der Stadt gewesen. Irgendein Schiff, Flugzeug oder Hubschrauber würde sie schon mitnehmen.
Die Massenflucht forderte erste Opfer. Am Straßenrand lagen vereinzelt aufgequollene Leichen, deren Zungen herausbaumelten, die Gesichter von Fliegen bedeckt. In der tropischen Hitze war der Gestank unerträglich, doch die Flüchtlinge, deren Gemeinschaftsgefühl längst erloschen war, gingen ungerührt vorüber.
Anders als Botschafter Martin hatten die Vietnamesen in Saigon schon aufgegeben, und die meisten Flüchtlinge strebten wohlweislich nicht in die Hauptstadt, sondern nach Süden. Cam Ranh mit seinem großen Hafen wurde von einem wahren Menschen-Tsunami überflutet. Bis Harry sich zum amerikanischen Konsulat im alten Kolonialviertel durchgekämpft hatte, in dem sich auch die Außenstelle der CIA befand, war es fast dunkel.
Die Gegend war unheimlich still. Die Bewohner, meist Ausländer und reiche Vietnamesen, waren schon geflohen und hatten ihre eingezäunten Villen, glänzenden Mercedes-Limousinen und makellosen französischen Gärten zurückgelassen. Einige Anwesen waren bereits geplündert worden. Als Harry in die Einfahrt des Konsulats bog, sah er zwei junge Vietnamesen, die Kisten mit Bordeaux und russischem Kaviar aus dem Nachbarhaus schleppten.
Das Konsulat selbst war verlassen. Der ausgeplünderte Barschrank, verschmierte Kristallgläser im Wohnzimmer und ein Aschenbecher voller Zigarrenstummel zeugten davon, dass die Bewohner die guten Sachen lieber selbst konsumiert hatten. Kein Wunder, dass sie es erst so spät aus der Stadt geschafft hatten.
Harry griff nach dem Telefon, das zu seinem Erstaunen tatsächlich noch funktionierte, und wählte Susans Nummer in Saigon.
Es klingelte fünfmal, sechsmal. Auf der Straße hörte man Schüsse, Glas zerbrach. Dann drang plötzlich Gelächter an sein Ohr.
»Carol!«, rief Susan. Im Hintergrund war die unverwechselbare Geräuschkulisse einer Party zu hören. Carol war eine Kollegin aus der Botschaft. »Ich habe doch gesagt, du sollst rüberkommen.«
»Nein, Susan, ich bin es«, sagte Harry.
»Harry? Ich habe heute Nachmittag schon versucht, dich anzurufen. Das mit heute Morgen tut mir leid. Es war wirklich kindisch. Dick geht es gut. Er wurde aufgehalten, weil er in Cam Ranh Hausputz halten musste, aber das weißt du ja.« Eine Pause. »Du bist doch nicht wirklich hingefahren, oder?«
Was sollte er sagen? »Nein«, antwortete er schließlich. »Natürlich nicht. Ich wollte nur wissen, ob alles in Ordnung ist.«
»Ja, das ist es«, erwiderte Susan verlegen.
Er hängte ein und rief in Nha Trang an. Es klingelte endlos, zehnmal, elfmal, fünfzehnmal, zwanzigmal. Er rief noch einmal an. Wartete, dass An sich endlich meldete.
Als sie auch beim zweiten Versuch nicht ans Telefon ging, trank er eines der benutzten Gläser aus. Plötzlich traf ihn das ganze Ausmaß seiner Niederlage, und er genehmigte sich den Rest der Flasche Johnnie Walker Black.
Virginia
Irene hatte das Haus und die gesamte Inneneinrichtung ausgesucht, die Möbel im Pseudo-Vorkriegsstil und die geblümte Tapete. Im Schlafzimmer dominierten Magnolien, die größer waren als eine Männerfaust und wie cremeweiße Knüppel auf einen niedergingen, im Badezimmer waren es niedliche Veilchen und Zwergrosen. Es war ganz allein ihr Haus, das sie für alles entschädigen musste, was sie niemals haben würde, für Harrys lange Reisen, die echten und die eingebildeten Fehltritte, die er dabei beging.
Das Haus, das sie kurz nach der Hochzeit erworben hatten, war ein Glückskauf gewesen, den man sich von einem damaligen CIA-Gehalt so gerade noch leisten konnte. Eigentlich war es ein ganz gewöhnliches Landhaus, das für eine Familie gedacht war. Das Grundstück lag aber nahe der CIA-Zentrale zwischen zwei Naturschutzgebieten und wurde von einem Laubwald und einem kleinen Bach eingerahmt. Ein echtes Juwel.
Durch diesen Wald stapfte Harry im Dämmerlicht, stolperte über Steine und abgefallene Äste und schlug nach hartnäckigen Moskitos. Zum ersten Mal war er dankbar für das Dickicht aus Robinien und Hartriegel, das den Garten begrenzte. Er war sich sicher, dass Morrow das Haus beobachten ließ. Daher hatte er den Mietwagen am Ende eines selten benutzten Betriebswegs abgestellt und war zu Fuß durch das Naturschutzgebiet gegangen. Beim Näherkommen konnte er jedoch keinerlei Anzeichen von Überwachung feststellen.
Er ging am Rand des Grundstücks entlang,
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