Verschärftes Verhör
Trotz verzweifelter Suche war ihr der Beweis bislang erspart geblieben.
Aber er war gesprungen. Das wusste sie genau. Falls er die Wahl gehabt hatte, war er gesprungen. Er hatte den Ausweg gewählt, vor dem sie selbst zurückgeschreckt wäre.
Wenn es ganz schlimm kam, stand sie mit ihm am Rand des wunderschönen blauen Himmels. Unter ihnen lag die Stadt, in der Ferne schimmerte der Hudson wie gehämmertes Silber in der Sonne. Hinter ihnen brannte das Feuer.
Wenn es ganz schlimm kam, wusste sie nicht, was schlimmer war: dass sie ihren Bruder verloren oder dass sie ihn so furchtbar im Stich gelassen hatte.
Unter ihrem Fenster prallte ein Chor männlicher Stimmen von den dunklen Fassaden der Häuser ab. Europäer, dachte Kat, wenngleich sie die Sprache nicht sofort erkannte. Niederländisch oder Dänisch, jedenfalls eine germanische Sprache.
Die Männer kehrten aus einem der Rotlichtbezirke zurück, die das Hotel von allen Seiten umgaben.
Alles wohlüberlegt, hatte Kat gedacht, als Kurtz vor dem Hotel angehalten hatte. Er wollte ihr auf subtile Weise zeigen, dass sie eine von ihnen war, dass sie hierhergehörte. Vielleicht hatte er gar nicht so unrecht. Vielleicht war sie wirklich nicht besser als die Frauen auf der Avenue Lalla Yacout.
Kat drehte sich auf die Seite und drückte sich das muffige Kissen auf den Kopf, wollte damit nicht nur die Stimmen von der Straße aussperren, sondern auch die in ihrem Kopf. Die Stimmen von Max und Colin, die anklagenden Stimmen der Toten und ihre eigene, die grausamste von allen, die unablässig wiederholte, was sie längst hätte erkennen müssen: Man hatte sie nicht hergeschickt, um den Jungen zu retten, sondern um ihn zu töten.
Durch die papierdünne Wand konnte sie Kurtz nebenan schnarchen hören. Einatmen. Pause. Einatmen. Pause. Zwischen jedem Atemzug eine tödliches Zögern, ein Sekundenbruchteil, in dem seine Lungen den Dienst verweigerten.
Dies war ihre Chance, vermutlich die einzige. Wenn sie jetzt verschwand, würde sie Jamal als Erste finden. Aber was dann? Schon einmal hatte sie vergeblich versucht, dem Jungen zu helfen.
Nein, sie würde die Fehler, die sie in Bagram begangen hatte, nicht wiederholen. Diesmal würde sie das Spiel nicht mitmachen. Langsam erhob sie sich vom Bett. Sie passte ihre Bewegungen dem Metronom von Kurtz’ Atem an, während sie Schuhe, Jacke und Kopftuch zusammensuchte und in den Flur hinaustrat. Sie blieb einen Augenblick vor Kurtz’ Zimmertür stehen und horchte. Dann stieg sie die enge Treppe hinunter und stand auf der dunklen Straße.
Es war furchtbar, einem anderen Menschen den Tod zu wünschen – vor allem, wenn man diesen Menschen kannte, wenn man seine Stimme jeden Morgen durch die Wand gehört, wenn seine Gebete dem Tag einen Rhythmus verliehen hatten und sein Gesang einen vor der grausamen Wiege der Nacht beschützt hatte. Manar hatte während ihrer Gefangenschaft viele Demütigungen ertragen. Dass sie nur im Leid der Mitgefangenen Freude gefunden hatte, war vielleicht am schlimmsten.
»Wenn eine von uns stirbt, gelobt sei Allah, lassen sie die anderen raus«, hatte die Frau in der Nachbarzelle kurz nach ihrer Ankunft erklärt. Sie sprach mit dünner Stimme, aufgeregt und ängstlich zugleich. »Die Frau ganz am Ende vom Gang wird sterben. Sie weiß es noch nicht, aber ich höre es an ihrer Stimme. Wir müssen beten, dass sie bald von uns geht.«
Die Stimme des Wahnsinns, hatte Manar gedacht, wir fallen übereinander her wie die Tiere, für die sie uns halten. Naiv, wie sie war, hatte sie geschworen, der Versuchung nicht zu erliegen. Diese Genugtuung wollte sie den Wärtern nicht geben.
Als die Frau schließlich zwei Wochen später starb und die Wärter alle Gefangenen in den sonnenbeschienenen Hof zum Begräbnis schleppten, konnte Manar endlich die Gesichter der Frauen sehen, mit denen sie die Dunkelheit teilte. Einen Moment lang kam es ihr vor wie eine zweite Geburt. Als hätte ihnen die tote Frau, die grausam und unter Schreien gestorben war, weil die Ratten ihren Tod nicht abwarten wollten, dieses Geschenk gemacht. Als wäre es das Schlimmste, dieses Geschenk zu verschwenden. Und so hatte Manar wie alle anderen ihr Gesicht zum klaren Himmel über der Sahara erhoben.
Allerdings hatte selbst dieses winzige Stückchen Freiheil seinen Preis. Als die Wärter sie in die Zelle zurückbrachten und die Tür hinter ihr verschlossen, erlebte sie den Ort wie am ersten Tag, verspürte die gleiche atemlose Panik und
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