Verschärftes Verhör
klaustrophobische Verzweiflung. Und betete darum, die Nächste zu sein.
»Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen«, betete Manar wie an jenem Tag und in der ganzen Zeit danach, nur flüsterte sie die Worte nicht in der Dunkelheit der Zelle, sondern in ihrem eigenen Schlafzimmer. »Im Namen Allahs, an den ich nicht mehr glaube, der mir nichts geschenkt hat … Bitte erlaube mir zu sterben.«
Nun, da die Tür offen stand, da man ihr ein Stück Hoffnung zugeteilt hatte, nun, da der Junge, ihr Kind, in ihrer Seele Gestalt angenommen hatte, war der Schmerz über seinen Verlust genauso schlimm wie damals, als die Krankenschwester ihn aus ihren Armen genommen hatte. Manar wusste, dass sie diesmal nicht weiterleben konnte.
Virginia
Es war fast sieben, als Harry von der Route 50 auf den Parkplatz des Patriot Shopping Centers in Falls Church abbog. Zeit zum Mittagessen, der vietnamesische Nudelimbiss hatte gut zu tun. Harry fuhr um das langgestreckte Gebäude herum, wo er zu seiner Erleichterung das diskrete Schild mit der Aufschrift PATRIOT SECURITY SYSTEMS an der vertrauten grauen Stahltür entdeckte. Er stellte den Mietwagen ab, ging zur Tür und drückte den schmierigen Klingelknopf.
Eine Minute verging, dann noch eine. Die Hintertür des Nudelimbisses schwang auf, und ein junger Mann schleifte einen schwarzen Müllsack heraus. Er schaute gleichgültig zu Harry hinüber, warf den Müllsack in den Container und verschwand wieder. Bestimmt hatte er sie alle schon gesehen: Russen, Chinesen, Araber, Amerikaner. Jeder Agent aus der CIA-Zentrale besuchte mindestens einmal im Leben das Patriot.
Harry klingelte erneut. Einmal hatte er eine halbe Stunde vor der Tür gestanden, bis Heinrich endlich drinnen fertig war. Der Deutsche ließ sich nicht gerne hetzen. Endlich schwang die Tür auf, und Heinrichs vertrautes Gesicht, das älter aussah denn je, spähte aus dem Dämmerlicht hervor.
»Mr Brown«, sagte der Deutsche und verzog den knittrigen Mund zu einem zufriedenen Lächeln. »Ich dachte, wir wären Sie los.« Dann verbeugte er sich wie ein Untertan vor seinem König und trat beiseite. »Bitte kommen Sie herein.«
Harry nickte ihm zu und gehorchte.
Der Laden war ein Wunderwerk der Technik, ein Ameisenhaufen in menschlichen Dimensionen, dessen Tunnel und Räume einzig und allein aus Elektronikschrott bestanden. Auf Außenstehende mochte er hoffnungslos chaotisch wirken, ein Müllhaufen von gigantischen Ausmaßen. Heinrich, der ebenso brillant wie verrückt war, wusste hingegen ganz genau, wo jede Schraube und jeder Mikrochip zu finden war.
»Hier entlang.« Heinrich führte Harry in eine Art Wohnzimmer, eine kleine Höhle inmitten des Mülls, die mit einem verschlissenen Perserteppich und drei abgenutzten Sesseln eingerichtet war. In einem davon lag eine graue, völlig reglose Katze. Hoffentlich lebt sie noch, dachte Harry flüchtig.
»Wem verdanke ich dieses Vergnügen?«, erkundigte sich der alte Mann, als sie Platz genommen hatten.
»Den Termiten«, erwiderte Harry.
Heinrich schüttelte mitfühlend den Kopf. »Ganz üble Dinger. Die wird man schwer los, was?«
»Deshalb bin ich ja hier.«
»Ja.« Heinrich lächelte zufrieden. Mehr brauchte er nicht. Auch kein Geld, obwohl er es immer gern entgegennahm. Am meisten aber gierte er nach Dankbarkeit, wollte hören, dass er der Beste auf seinem Gebiet war. Was auch stimmte.
»Ich brauche es noch heute«, sagte Harry.
Der Deutsche schnalzte mit der Zunge, als hätte er einen ungezogenen Schüler vor sich. »Immer diese Eile.«
»Berufskrankheit«, meinte Harry entschuldigend.
»Ja, das ist es wohl, eine Berufskrankheit«, wiederholte Heinrich. Dann erhob er sich zittrig aus seinem Sessel und wählte aus den unzähligen Schachteln, die sich in den Regalen stapelten, eine ganz bestimmte aus. »Für dich, mein Freund.«
24
Vietnam 1975
Als Harry Dong Ba Thin erreichte, das auf halber Strecke an der Küste gelegen war, wurde ihm klar, wie sehr er sich verschätzt hatte. Die Straße nach Süden war völlig verstopft mit Fußgängern und allen möglichen Gefährten: Ochsenkarren, Fahrradrikschas und improvisierten Wagen aus Fahrrädern und Sperrholz. Für die fünfzig Kilometer von Nha Trang bis hierher hatte er fast zwei Stunden gebraucht. Hinter ihm drängten die Massen weiter, so dass eine Umkehr unmöglich schien. Also würde er von Cam Ranh aus in Nha Trang anrufen und dafür sorgen, dass An und ihre Eltern auf andere Weise nach Süden gebracht wurden.
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