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Verschleppt

Verschleppt

Titel: Verschleppt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verhoef & Escober
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erkannt hätten und ihn einluden, sich zu ihnen zu gesellen. Oder heulten und schrien sie bloß so ohrenbetäubend, um ihn zu verjagen? Fort von diesem Ort, fort aus München?
    Als er zum letzten Mal in den Spiegel geschaut hatte, hatte er weniger furchterregend ausgesehen als die Figuren, die ihn jetzt umringten, aber der Schein konnte trügen. Er wusste, wozu er fähig war, und sie wussten es auch.
    Eine Zeit lang war er auf dem richtigen Weg gewesen. Hatte eine Firma aufgebaut, die gut gelaufen war. Hatte sich Respekt verschafft. Er hatte eine liebe, hübsche Frau und einen Bungalow in Zeist gehabt. War stolz auf sich gewesen.
    Wissentlich und willentlich hatte er dies alles verworfen, alles. Aus allen Möglichkeiten, die er in seinem beträchtlichen Luxus gehabt hatte, hatte er die Schlitterbahn der Selbstzerstörung gewählt und bei seinem blindwütigen, von Adrenalin angetriebenen Weg andere mitgerissen, abwärts. Warum?
    Aus dem pechschwarzen Himmel prasselte unablässig der Regen in den Hof. Maier erschauderte, drehte sich um und ließ noch einmal die Figuren und die dunklen, hohen Fenster auf sich wirken. Biss die Zähne zusammen. Zog die Nase hoch und wischte sich die Nässe aus dem Gesicht.
    Er wollte herausfinden, was ihn getrieben hatte und warum, und irgendwie hatte sein Unbewusstes ihn nach München geführt. In seine Geburtsstadt. Jene Stadt, die er fast drei Jahrzehnte lang sorgfältig gemieden und als nichtexistenten Ort betrachtet hatte, mit dem er nicht in Verbindung gebracht werden wollte. Die Stadt war nichts gewesen als eine Verwaltungsangabe, ein Ortsname in seinem Pass.
    Es musste einen Grund dafür geben, dass er jetzt hier war. Lang genug war er darüber hinweggegangen. Wenn er überhaupt noch etwas aus seinem Leben machen wollte, dann musste er zu den Fundamenten vordringen. Sonst hatte er nichts, worauf er bauen konnte.
    Morgen. Morgen würde er sich der Herausforderung stellen.
     

3
     
    Schlafen konnte sie nicht. Aufhören zu denken noch weniger. Die Gespräche, die sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in Illinois geführt hatte, gingen ihr immer weiter im Kopf herum. Es tat weh, feststellen zu müssen, dass sie einander nicht viel zu sagen hatten. Jedenfalls nichts Wesentliches. Auch an Sven musste sie denken, ihren früheren Nachbarn, der nie wieder fragen würde, ob sie Lust hätte, rüberzukommen und mit ihm einen Film zu sehen. Der liebe, naive, humorvolle, chaotische Sven. Mit der Zeit war er so etwas wie ein Bruder für sie geworden. Sie vermisste ihn.
    Am meisten jedoch und ständig war sie sich der Abwesenheit Sils bewusst. Mit ihm und seinen Sachen war zugleich so viel anderes verschwunden. Dinge, die nicht greifbar, aber unverzichtbar waren: Wärme, Freundschaft, Liebe.
    Verdammt! Ärgerlich drehte sie sich um und zog sich die Decke über die Schultern. Starrte zum Fenster: ein graues Rechteck in einem ansonsten in Schwarz getauchten Zimmer. Lauschte den Geräuschen der Stadt, die zu dieser Stunde so still war. Fast friedlich.
    So konnte sie sich doch eigentlich auch fühlen: friedlich. Sogar erleichtert. Es befanden sich keine Schusswaffen mehr in der Wohnung.
    Keine Angst mehr, kein Stress. Auch ihre Alpträume hatten aufgehört.
    Nachdem Sil gegangen war, war nur noch eine große Leere übriggeblieben.
    Sie war fest entschlossen, diese mit Arbeit auszufüllen. Und zwar so fanatisch, dass sie gar nicht mehr dazu käme, dieser inneren Stimme, die sie unablässig drängte, sie anstachelte und quälte, Beachtung zu schenken. Es war eine gemeine, sadistische Stimme, die tief in ihrem Innern an ihrer Seele zerrte und ständig flüsterte, dass sie Sil Maier verloren hatte. Sie hatte gekämpft und eine Niederlage erlitten.
    Du bist wieder allein.
    Morgen würde sie fotografieren gehen, ihr erster Auftrag seit Langem. Sie war fest entschlossen, etwas Besonderes daraus zu machen und wieder ein bisschen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Allerlei große Reisereportagen, die sie in der vergangenen, irrsinnigen Zeit abgelehnt hatte, waren an Kollegen gegangen, an andere Freelancer. Der Kontakt mit den Auftraggebern konnte ihrer Erfahrung nach ziemlich schnell abreißen. Wenn man ein paar Mal Nein sagte, landete man rasch ganz unten auf der Liste. Aber noch wusste sie, wie man eine Kamera bediente, und noch kannten die Zeitschriften ihren Namen. Sie waren sogar bereit, ihr gut bezahlte Aufträge zu geben. Auch wenn es erst mal noch keine großen Reportagen waren, es war immerhin

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