Verschleppt
Pastor oder zumindest irgendein Geistlicher und gab mit gelangweiltem Blick unverständliches Zeug von sich. Dann besprenkelte er den Sarg seiner Mutter mit einer Klobürste.
Der Mann sollte damit aufhören, aber niemand sagte etwas dergleichen.
Hinter seiner Oma, die er damals kaum kannte, standen Leute aus der Nachbarschaft. Die Nachbarsfrau Janny, die er Tante Janny nannte, mit unzähligen goldenen Ketten an den Armen und knallrot lackierten Nägeln. Zwischen den Fingern hielt sie eine erloschene Zigarette. Wie zusammengeknautschte Teebeutel hingen ihre mit Mascara und blauem Lidschatten beschmierten Tränensäcke unter den Augen. Janny hatte einen Schlüssel, und als er drinnen zu schreien angefangen hatte, war sie gekommen und hatte ihn geholt. Sich um ihn gekümmert, ihn auf den Schoß genommen und an ihre enormen Brüste gepresst. Sie war es auch, die die Polizei gerufen hatte.
Links, etwas weiter hinten, standen zwei Männer, die im selben Häuserblock wohnten. Einer von ihnen mit goldener Halskette und dunkelblondem Haar, das ihm bis über die Ohren reichte, der andere mit Bauchansatz und einer kleinen Glatze. Es waren zwei der zahlreichen Männer, die gelegentlich bei seiner Mutter zu Besuch gewesen und ihm als Onkel vorgestellt worden waren. Onkel Heinrich, Onkel Johann, Onkel Dieter. Manchmal waren sie mit in ihr Zimmer gegangen, und dann hatte er immer einen Marsriegel oder einen Plüschbären geschenkt bekommen und den Auftrag, hundert Runden mit dem Fahrrad zu fahren und dabei ein Lied zu singen. Bis hundert zählen, das konnte er. Auch bis zweihundert, wenn es sein musste. Er lernte schnell dazu. Erst später, aber noch vor seinem siebten Geburtstag, hatte er kapiert, dass die Männer gar keine Onkel waren. Seine Mutter hatte immer geweint, wenn sie wieder aus dem Haus waren. Trotzdem standen sie nun mit traurigen Augen an ihrem Grab.
Ansonsten waren noch ein paar Leute da, die er eher oberflächlich kannte. Mütter von Schulkameraden, nicht viele.
Die Zahl der Trauergäste war nicht groß. Später würde noch ein einfacher Grabstein aufgestellt. Bezahlt hatte das Ganze die Gemeinde, wie seine Oma ihm später erzählte. Die würde sich auch um alles Weitere kümmern.
Langsam versank der Sarg in der Erde. Die fest um seine Schultern geschlossenen Eisenhaken drückten seine Knochen noch fester zusammen, Tränen fielen ihm in den Nacken. Seine Oma weinte, wurde ihm bewusst.
Er selbst weinte auch. Jeder weinte.
Seine Mutter war tot. Tot und begraben.
Das Treppenhaus war schlecht beleuchtet. Die Wohnungstüren im zweiten Stock waren hellblau. Er konnte sich nicht erinnern, wie sie früher ausgesehen hatten. Blau jedenfalls nicht. Die Tür zu seiner früheren Wohnung hatte kein Namensschild. Es war aber jemand zu Hause, er hörte drinnen einen Fernseher.
Tatsächlich zu klingeln ging ihm zu weit. Es war zwar seine alte Wohnung, hier hatte er früher gelebt, aber das lag ewig zurück. Und wer würde schon einen eins fünfundachtzig großen Typen mit Kurzhaarfrisur, ausgeleierten Jeans und einer alten Fliegerjacke in seine Wohnung lassen, damit er sich dort ein bisschen umschauen und Jugenderinnerungen ausgraben konnte? Was immer er sagen und so freundlich er auch lächeln mochte — die Sicherheitskette würde eingehängt bleiben. Und zwar zu Recht.
Maier drehte sich zu einer der anderen Türen um. Hier hatte Tante Janny gewohnt. Vielleicht wohnte sie da noch immer.
Spontan drückte er auf den Klingelknopf.
5
Man stelle einem zufälligen Passanten die Frage, wo er vor genau dreihundertneunundsechzig Tagen gewesen ist. Was er getan und wie er sich gefühlt hat. Man nenne kein Datum, sondern lediglich die genaue Anzahl von dreihundertneunundsechzig Tagen. Der Angesprochene wird die Stirn runzeln, zu rechnen anfangen und die Antwort schließlich schuldig bleiben.
Nicht so Wadim.
Wadim hatte nichts vergessen.
Wadim wusste genau, wo er vor dreihundertneunundsechzig Tagen gewesen war. So lange lag der Tod seines Bruders zurück. Seitdem hatte er jeden einzelnen Tag gezählt.
Nachdem er von seinen körperlichen Verletzungen genesen war, hatte er sich in Aufträge der Organisation gestürzt. Für Liquidationen, die nur zu zweit durchgeführt werden konnten, wurden ihm kurzfristige Partner zur Verfügung gestellt, die er grundsätzlich erst eine Woche vorher kennenlernte und danach nie wiedersah. Ihm war aufgefallen, dass die meisten professionell geschult waren, genau wie er und Juri.
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