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Verschleppt

Verschleppt

Titel: Verschleppt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verhoef & Escober
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dem eilig hochgezogenen Viertel waren nach dem Zweiten Weltkrieg sämtliche Problemfälle angesiedelt worden, die zuvor in den städtisch verwalteten Baracken untergebracht waren: Zigeunerfamilien, Obdachlose, Familien mit nur einem Elternteil, ohne Geld und ohne Aussichten.
    Home sweet home.
    Siebenundzwanzig Jahre war es her, dass Sil Maier in diesem Stadtteil gelebt hatte, der mindestens acht Kilometer vom Zentrum entfernt lag. Was vermutlich gute Gründe hatte: möglichst weit weg von der anmutigen Innenstadt mit ihren unzähligen Restaurants und Kneipen, ihren unbeschadet aus den Bombardements hervorgegangenen historischen Gebäuden und den zahllosen mit sprichwörtlicher deutscher Präzision rekonstruierten Museen und Gebäudeteilen der Residenz. Hier draußen hingegen lebte der Ausschuss — von der ruhmreichen Geschichte Bayerns war hier nicht viel zu spüren. Dieser Stadtteil war Münchens eiternde Wunde, der Schandfleck auf dem makellos herausgeputzten Image.
    Das ungewollte Kind.
    Sein Auto erregte Aufmerksamkeit. Für ihn war der Carrera 4S schlicht ein Fortbewegungsmittel, das ihn von A nach B brachte, und zwar möglichst schnell. Hier aber drehten die Leute die Köpfe danach um, vor allem Jugendliche mit dunkler Haut und tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sie ihn nicht kannten und er ein ausländisches Nummernschild hatte.
    Die Häuser sahen alle gleich aus, ein Block wie der andere. Grau, weiß, grau, in der Mitte jeweils ein Eingang mit Drahtglastür und dahinter das Treppenhaus aus Beton. Fenster mit zugezogenen Gardinen und grauen Balkonen.
    Bei einem Gebäude mit dunklen Stellen unter den Balkonen hielt er, stieg aus und zog sich seine Jacke über. Der Wind fegte die Herbstblätter über die Straße. Irgendwo lief sehr laut ein Radio.
    Die Bäume waren damals noch nicht so groß gewesen wie heute. Den Spielplatz hingegen hatte er viel größer in Erinnerung. Groß wie einen Fußballplatz, wie eine Welt für sich.
    Die Spielgeräte waren neu. Er ging auf ein Klettergerüst zu und strich mit den Händen über die Stangen.
    Drei Kinder im Alter von etwa neun Jahren, die ein paar Meter weiter bei einer Schaukel herumhingen, sahen ihn schweigend an. Ein etwas Älterer schielte an ihm vorbei auf seinen Wagen. Er trug eine weiße Sweatjacke mit grellrotem Buchstabenaufdruck und spielte ziemlich auffällig mit einem Taschenmesser herum.
    Maier blieb bei dem Gerüst stehen und schaute an der fensterlosen Fassade des vier Stockwerke hohen Gebäudes hinauf. Er steckte die Hände in die Taschen und ging durch die geöffneten Drahtglastüren ins Treppenhaus. Es war düster, und seine Schritte hallten von den Wänden wider.
    Seiner Erinnerung nach hatte es früher nach Urin gerochen. Das tat es jetzt nicht mehr, stattdessen hing der Geruch von ermüdetem, feuchtem Beton und frischer Farbe in der Luft.
    Er ging die Treppe hinauf, langsam, als hätte er an jedem Fuß zehn Kilo mitzuschleppen. Strich mit den Fingern an der Wand entlang. Die war gerade erst frisch gestrichen worden. Ein ordentliches, mattes Weiß.
    Früher war es Hochglanzfarbe gewesen, die leicht bröckelte. Er wusste noch, wie er mit den Fingern die Farbblasen zerdrückte, sodass kleine Krater entstanden. Die abblätternden Schuppen fing er auf und legte sie draußen im Sand zu Mosaiken zusammen oder füllte sie in die flache Vertiefung beim Lenkrad seines Kettcars, gewissermaßen als Treibstoff. Wenn er oft und schnell genug scharfe Kurven nahm, fielen die Fitzel irgendwann heraus. Dann ging er zu Fuß zum Treppenhaus zurück, um zu »tanken«, wobei er den Kettcar hinter sich herzog, sonst wäre er ihn los gewesen.
    So viele weitere Erinnerungen kamen ihm wieder zu Bewusstsein. Dutzende, Hunderte. Fetzen, die sich zu Szenen und zusammenhanglosen Filmausschnitten aneinanderfügten. Vieles, was er verdrängt hatte, stürmte nun mit aller Heftigkeit auf ihn ein.
     
    Ein ziemlich windstiller Morgen, unklar, welche Jahreszeit. Es hingen keine Blätter mehr an den Bäumen, also war es wohl Herbst, Winter oder Anfang Frühling. Seine Oma stand hinter ihm, die Hände wie kalte Haken um seine Schultern geklemmt. Er war acht Jahre alt. Zu groß, als dass man ihn noch hochheben, wie ein Baby wiegen und trösten würde, dabei war ihm genau danach am meisten zumute.
    Über dem länglichen Loch im Boden lagen zwei Metallbalken, darauf leicht schwankend ein einfacher Sarg aus Eichenfurnier. Daneben stand ein

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