Verschleppt
bisschen Ordnung in das Ganze zu bringen.“ Kelly hob die Schultern und lächelte ihre Freundin an. „Na gut, vielleicht hat du recht.“ „Natürlich habe ich recht!“, Kelly stupste Sara liebevoll an. Sie hatte Sara eine Jeans und ein kariertes Hemd von sich gegeben, damit Sara nicht in ihrer Jogginghose von gestern rumlaufen musste. Kelly und Sara fuhren zum Cabrillo Monument National Park, wo der bekannte Leuchtturm über San Diego ragte. Der Himmel war wieder wolkenfrei und die Sonne schien auf den Asphalt, vom Gewitter am Vortag war keine Spur mehr zu sehen. Auf dem Weg dorthin passierten sie eine alte Militärbasis. Dahinter befand sich einer der größten Militärfriedhöfe San Diegos, der Fort Rosecrans National Cemetary. Die Straßenseiten waren gesäumt von unendlich vielen weißen Grabsteinen. Sara hatte immer ein beklemmendes Gefühl, wenn sie diese Straße entlangfuhr - heute besonders.
Nach wenigen Minuten Fahrt waren sie am Cabrillo Monument angekommen, hier parkte Kelly ihren Wagen unmittelbar vor dem Visitor Center. Die beiden Frauen stiegen aus und Sara streckte sich, während sie die klare Luft einatmete. Um zum Leuchtturm zu gelangen, mussten sie auf einem leicht ansteigenden Weg gehen, der entlang der nordöstlichen Hügelkuppe führte. Oben angekommen zog Kelly ihre Jacke aus und legte sie sich über den Arm. „Komm, lass uns da rübergehen“, Sara zeigte auf eine Bank in der Sonne, von wo man einen wunderschönen Rundblick über San Diego hatte. Es handelte sich um die höchste Erhebung San Diegos und bei klarem Wetter hatte man eine Sicht von bis zu 70 km. Heute war ein solcher Tag. Kelly und Sara fuhren oft hier hoch, obwohl es meistens von Touristen nur so wimmelt. Aber da heute kein Wochenende war und die Uhr nicht mal 10 zeigte, war es recht leer. Ein älteres Ehepaar machte gerade Fotos und genoss die spektakuläre Aussicht. Eine Familie mit drei Kindern lief ebenfalls über den Platz und der Vater erklärte gerade seinen Jungs auf einer der sonnengebleichten Schautafeln die verschiedenen Schiffs- und Flugzeugtypen der Navy, die man hier ständig beobachten konnte. Eine häufige Geschichte ist, dass Tom Cruise den Film Top Gun hier in San Diego gedreht hatte. Sara wollte immer einmal geschaut haben, ob eine einzige Tafel sich ausschließlich damit beschäftigte – hatte es aber immer wieder vergessen.
Obwohl Kelly und Sara hier lebten und oft hier oben waren, saßen sie auf ihrer Bank und ließen den Blick schweifen. Keine andere Stelle bot einen so umfassenden Überblick über die Bucht von San Diego und so war die Betrachtung der Skyline und der Seewege mit den vielen Schiffen und Yachten dann auch immer eine ihrer Hauptbeschäftigungen. Der Blick reichte von den San Bernadino Mountains im nördlichen Hintergrund über die North Island Naval Air Station auf der Coronado Island in der Mitte der Bucht, von der Harbor Island und dem International Airport mit der Skyline von San Diego dahinter bis zur Coronado Bridge und auf den Pazifik hinaus. Irgendwo bewegt sich immer etwas. Da zogen die Hubschrauber der Küstenwache ihre Kreise, dort verließ ein Kriegsschiff den Hafen, Yachten und Segelschiffe kamen und gingen. In diesem Moment war wieder ein Schiffshorn zu hören, welches das ältere Ehepaar aufhorchen ließ.
Sara war in einer seltsamen unruhigen Stimmung. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie etwas Entscheidendes übersah. Aber es fiel ihr momentan schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Ereignisse der letzten Tage überrannten sie förmlich. Sara massierte ihren Nasenrücken und atmete tief ein, sie dachte angestrengt nach. „Was ist los?“, fragte Kelly, die sich ihre Sonnenbrille aufsetzte. „Jason wurde gefoltert!“, sagte Sara, ohne Kelly anzuschauen. „Wie bitte?“, Kelly zog ihre Sonnenbrille wieder aus und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. Sie blickte Sara eindringlich an. Sara wollte ansetzen, da unterbrach Kelly sie. „Verschon mich mit den Einzelheiten. Verstehe ich das richtig: Grobe Gewalt ja, Pädophilie nein?“ Sara nickte mutlos. „Wir müssen Noah schnell finden, bevor es zu spät ist“, sagte sie leise und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Auch Kelly verstand die Tragweite dieser Einzelheit, wollte sich damit aber nicht abfinden. „Ihr werdet Noah und die anderen Kinder finden!“ Sara schien ihr nicht zuzuhören, sie blickte starr in den Himmel. „Ich versteh es einfach nicht, Kelly. Was will der Kerl?“ Kelly
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