Verschollen
sog hastig die Luft ein, sah auf die Uhr. Bald vier. Es gab keinen Grund für ihn, noch länger zu warten. Er schob das Laken beiseite, stand auf und ging langsam über den Boden. Mit ausgestreckter Hand fand er den Lichtschalter. Das Licht von der tief hängenden Deckenlampe war gedämpft, und die schweren, verdunkelnden Gardinen schirmten das Zimmer vom Schein der Straßenlaterne ab. Er ging ins Badezimmer, stieg in die Dusche, drehte das Wasser an und regelte die Warmwasserzufuhr, bis es vor Hitze dampfte. Dann sank er in die Hocke und ließ das Wasser über seinen Körper fließen.
Das Duschen war der einzige Anlass für Klagen gegen ihn im Haus: dass er nachts oft stundenlang duschte. Aber diese Beschwerden lagen lange zurück. Entweder hatte man sich daran gewöhnt, oder die Duschkabine, die er hatte einbauen lassen, dämpfte die Geräusche.
Außerdem hatte er sich geflissentlich darum bemüht, seine Mitbewohner zu besänftigen. Er war immer freundlich aufgetreten, stets höflich im Umgang mit den anderen, hauptsächlich älteren Mietern. Er hatte gegrüßt, einen kleinen Schwatz gehalten, wenn er jemanden im Treppenhaus oder vor der Haustür traf. Wie beiläufig hatte er Einzelheiten von seiner Arbeit erzählt, dass sie ihn zwinge, häufig für längere Zeit fort zu sein, dass er zu unregelmäßigen Uhrzeiten nach Hause komme und darum die Hausarbeit und andere Dinge mitunter nachts und in den frühen Morgenstunden erledigen müsse. Er tat dies, ohne aufdringlich zu werden. Gleichzeitig bewahrte er eine gewisse Distanz, die vermutlich dazu beitrug, dass er recht bald von seinen hochbetagten Nachbarn akzeptiert wurde, deren Nachnamen sämtlich aus einem Adelskalender zu stammen schienen. Und wahrscheinlich war das auch so, dachte er mit einem Lächeln. Sein eigener Familienname stach wie in einer Parodie aus der Namensliste unten in der palastartigen Eingangshalle hervor.
Schließlich stieg er aus der Dusche, trocknete sich sorgfältig ab, einen Körperteil nach dem nächsten und ging ins Wohnzimmer, nackt. Er sank auf den Boden und blieb dort eine Weile mit geschlossenen Augen sitzen. Dann begann er, das Bewegungsschema durchzugehen. Zu Anfang mit sehr langsamen, fast stockenden Bewegungen. Nach und nach wurden sie schneller, avancierter, schwieriger. Er erhob sich und wirbelte im Raum herum, folgte aber die ganze Zeit einem strikten, beherrschten Muster von Angriff und Abwehr, vor und zurück, und bewegte sich dabei federnd, fast lautlos.
Nach etwa einer halben Stunde hörte er auf und blieb mitten im Zimmer regungslos stehen. Sein Körper begann zu zucken. Zuerst trat er einige Schritte zur Seite, dann fing er an, herumzulaufen und -zuspringen. Aus seinem geöffneten Mund kamen dumpfe, gutturale Laute, eine Mischung aus Schluchzern und Gelächter. Er sprang im Kreis, immer schneller, mit den Armen flatternd, den Kopf von einer zur anderen Seite werfend, während seine Kehllaute anstiegen zu einem unverständlichen, brabbelnden Gesang. Dann sank er wieder auf den Boden und blieb dort liegen, die Beine an die Brust gezogen. Seine Atmung beruhigte sich langsam. Er stand auf, ging ins Badezimmer, drehte die Dusche an, seifte sich ein, stand unter dem heißen, fließenden Wasser und wiederholte seine Prozedur ein zweites Mal.
Als er das Wasser abdrehte und aus der Dusche stieg, erlebte er für einen kurzen Augenblick, dass alle Gerüche fort waren, sogar der Geruch seines eigenen Körpers. Er hielt seine Nase an die Haut am Oberarm und schnupperte mit geschlossenen Augen. Das Gefühl vollkommener Reinheit ließ ihn leicht erzittern.
4
Olle Ivarsson. Der Name war aufgetaucht, als er versucht hatte, einige der Polizisten ausfindig zu machen, die damals mit dem Fall beschäftigt gewesen waren. Nielsen stutzte, als er feststellte, dass dieser eine noch immer im Dienst war, noch dazu im selben Distrikt, am selben Ort.
Es war auch nicht weiter schwierig gewesen, ihn zu einem Treffen zu überreden. Ivarsson hatte es ihm geradezu angeboten.
Er hatte auch versucht, sich mit Anna-Greta Sjödins Schwester, die in Östersund wohnte, zu verabreden. Aber ohne Erfolg. Sie hatte kurz und bündig gesagt, dass sie sich nicht interviewen lassen wollte. Sie schien überhaupt mit niemandem über die Geschichte mit ihrer Schwester sprechen zu wollen.
So blieb es bei Olle Ivarsson. Er hatte den Nachtzug genommen und war am frühen Morgen angekommen. Es war Mitte Oktober gewesen, aber mild für die Jahreszeit, wie er fand. In
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