Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Verschollen

Titel: Verschollen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Åke Smedberg
Vom Netzwerk:
Fichtenwald. Sie waren den Fluss entlanggekommen. Waren von der alten Landstraße abgebogen und dem Waldweg gefolgt, der parallel zum Wasser verlief. Das graue Licht dieser Nacht. Etwas Fiebriges, Aufreizendes hatte in der Luft gelegen. Ein Gefühl, als würden sie sich schwebend, gleichsam tanzend bewegen. Und er hatte bereits gewusst, was geschehen würde.
    Dann öffnete er die Tür und stieg aus.
    Von nun an war jede seiner Bewegungen zielsicher, genau berechnet. Er ging um das Auto herum, öffnete den Kofferraum, nahm den Plastiksack heraus und faltete ihn zu einem rechteckigen Paket zusammen, das in seine Jackentasche passte. Den klappbaren Spaten steckte er unter den Gürtel, dann zog er die Jacke an. Das Klebeband stopfte er in die andere Jackentasche. Er drehte sich um und überquerte den Weg. Einen Moment lang dachte er, er habe Motorengeräusche gehört, doch das hinderte ihn nicht.
    Ein schmales Band aus Bäumen entlang des Flussufers war stehen geblieben. Nach Westen breiteten sich die kahl geschlagenen Flächen aus. Er ging am unteren Saum eines Kahlschlags, der etwa ein Jahr alt war. Seine Bewegungen waren geschmeidig und schnell. Nach ungefähr einem halben Kilometer wurde er langsamer, inspizierte den Abhang hinunter zum Fluss. Er erinnerte sich wieder genau.
    Dort wo sich der Uferbereich ein wenig lichtete, eine ebenere Stelle bildete, verharrte er, suchte die Gegend mit den Augen ab. Plötzlich lachte er laut auf.
    Kein Mensch war hier gewesen. Auch aus dieser Entfernung war er sich so gut wie sicher.
    Er lief hinunter zum Fluss, schob sich durch den lichten Birkenwald und das Weidengebüsch, bis er die Stelle erreichte, auf der weder Birke noch Weide richtig Halt finden konnten. Er ging einige Schritte, bevor er die Bodenerhebung entdeckte. Mit dem Fuß schob er das Seggegras und die Steine darunter weg. Dann zog er den Spaten hervor, klappte ihn auseinander und schaufelte die Erde beiseite.
    Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, das gesamte Skelett freizulegen. Er richtete sich auf, betrachtete es einen Augenblick lang, drehte den Spaten in den Händen, hob ihn hoch und zerteilte mit einem schnellen Stoß die Wirbelsäule, kurz über dem Becken. Dann trennte er den Schädel von den Nackenwirbeln, die Arme von den Schulterblättern. Er trat einen Schritt zurück, stellte sich breitbeinig über die Grube, hob den Spaten und stieß einige Male zu, bis er den Hüftknochen vom Becken getrennt hatte, tat einen weiteren Schritt zurück und halbierte mit einem präzisen Hieb beide Beine auf Höhe der Kniegelenke.
    Er strich sich ein paar Schweißtropfen aus der Stirn. Dann trat er zur Seite, holte den Plastiksack aus der Tasche, faltete ihn auseinander und begann systematisch, die einzelnen Skelettteile einzusammeln. Den Brustkorb zertrümmerte er mit Tritten, bevor er ihn in den Sack stopfte.
    Er warf einen Blick auf die Uhr. Zehn vor zwölf. Knapp eine Stunde war es her, seit er den Wagen verlassen hatte. Er durfte sich nicht zu lange hier aufhalten, dachte er, nicht dieses Mal. Dennoch hielt er kurz inne und sah mit suchendem Blick hinauf zu der spitzen Bergkuppe hinter ihm.
    Plötzlich konnte er ihre Stimme wieder hören. Sie schien von einer Stelle seines Zwerchfelles aufzusteigen. Ein wütender, gequälter Aufschrei. Röchelnd, brodelnd, wie nach einem Hustenanfall.
Du darfst nicht gehen! Du darfst nicht!
    Er erstarrte.
Ich komme doch wieder, ich habe dich noch nie im Stich gelassen
, versuchte er zu sagen, aber sie unterbrach ihn erneut mit einem erstickten Schrei:
Nein! Du darfst nicht gehen! Komm zu mir!
    Etwas in ihm begann zu zucken, unkontrolliert. Er konnte ihre übermächtige, vernichtende Kraft spüren. Für einen Moment wusste er, dass er nicht umhinkam, ihr zu gehorchen. Dann atmete er tief ein, schloss die Augen und zwang ihre Stimme in sich nieder, Stück um Stück, während ihm der Schweißübers Gesicht lief.
    Jetzt war er der Stärkere. Der Stärkere und der Ältere. Er war derjenige, der entscheiden musste, was für sie beide das Beste war.
Ich komme bald zurück
, flüsterte er mit milder, tröstender Stimme, als würde er mit einem Kind sprechen.
Ich werde dich niemals im Stich lassen. Ich komme zurück. Ich habe es doch versprochen.
    Er lauschte. Nichts. Sie war still, als hätten seine Worte sie zum Schweigen gebracht.
    Nur einer der Männer war ihm gefolgt. Er bemühte sich erst gar nicht, schneller zu werden. Im Gegenteil, er verlangsamte das Tempo, wartete darauf, dass der

Weitere Kostenlose Bücher