Verschollen
bot. Das lässt sich in einem so kleinen Ort kaum vermeiden. Das war wie Weihnachten für Klatschmäuler. Vermutungen, Gerüchte, darunter glatte Verleumdungen.
Aber im Großen und Ganzen betrachtet hielt sich das alles auf einem angemessenen Niveau, wenn man die Umstände berücksichtigt. Bis Karl-Erik Sjödin, der Vater, auf der Bildfläche erschien.
Schon von Anfang an hatte er sich bei den Ermittlungen in einer Weise engagiert, die zwar verständlich war, aber gewiss nicht unsere Arbeit erleichterte. Später dann, als die Nachforschungen nichts Verwertbares ergaben, hat er die Sache selbst in die Hand genommen, kann man wohl sagen. Er fuhr in der Gegend herum, jeden Zentimeter fuhr er ab, Pfade und Waldwege. Er ging sogar zu Fuß. Und untersuchte, grub, fragte, schnüffelte herum. Ja, es kam vor, dass er zu Leuten hereingestürzt kam und regelrechte Verhöre führte! Er kam mit Hinweisen, die wir seiner Meinung nach verfolgen sollten. Nicht einer oder ein paar, sondern zwanzig, und das jedes Mal! Außerdem schrieb er seine Leserbriefe. Und Beschwerden an den Ombudsman.
Gleichzeitig entwickelte das Gerede eine Eigendynamik. Plötzlich wussten ziemlich viele Leute Bescheid, was angeblich tatsächlich passiert ist, wen man mal genauer unter die Lupe nehmen sollte. Es war, als hätte man in ein Wespennest gestochen. Überall surrte und stach es. Viele redeten gar nicht mehr miteinander. Und tun es bis heute nicht.
Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass Karl-Erik Sjödin diesen Prozess in Gang gesetzt hat, aber die Gerüchte richteten sich auch gegen ihn selbst. Was vielleicht nicht so verwunderlich war. Die Leute meinten, dass sein Benehmen etwas Krankhaftes hätte. Die Gerüchte galten jedoch nicht nur ihm, sondern auch seiner Frau. Sogar die Schwester wurde mit hineingezogen, obwohl die damals in Stockholm wohnte. Auch sie sollte involviert gewesen sein. ›Sehen Sie mal im Keller in der Tiefkühltruhe nach!‹, sagte einer der anonymen Anrufer. Aber wir hatten natürlich das Haus schon längst Zentimeter für Zentimeter durchsucht. Wir hatten auch die Familie Sjödin durchleuchtet. Es gehört ja quasi zur Routine, dass man sich bei so einem Fall den engeren Familienkreis ein bisschen genauer ansieht. Aber wir haben nicht die geringste Spur dafür gefunden, dass Karl-Erik und Margit Sjödin etwas mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun hatten. Und im Übrigen gab es im Keller gar keine Tiefkühltruhe. Aber das zeigt, wie weit so etwas gehen kann...«
Er rieb sich erneut die knochige Nase, schüttelte den Kopf.
»Es war eine Tragödie, für alle Beteiligten. Auch für Karl-Erik Sjödin, er hat sich niemals richtig davon erholt. Man konnte ihm das ansehen, er war ein einziges Nervenbündel, der ganze Mann zitterte vor Seelenqualen... Nein, das hat ihn kaputtgemacht. Er war vor der Geschichte Gerichtsvollzieher der Kommune gewesen. Nach dem Verschwinden seiner Tochter hat er seine Arbeit nicht wieder aufgenommen. Ich vermute, dass er frühpensioniert wurde. Sie haben sich auch scheiden lassen, er und seine Frau. Haben das Haus verkauft. Sie ist dann weggezogen. Er blieb hier wohnen, in einer kleinen Wohnung und hat seine Suche fortgesetzt. Er war wie besessen davon, nichts anderes hatte mehr Bedeutung für ihn. In den Siebzigern bekam er zwei Herzinfarkte. Und kurz nachdem dieser Brief aufgetaucht war, bekam er eine Hirnblutung und starb wenige Tage später.«
Er starrte in Gedanken vertieft vor sich hin.
»Und es gibt sicherlich noch immer einige, die glauben, dass er ihn selbst geschrieben hat...«
Er schwieg und blieb regungslos sitzen, die Ellenbogen auf dem Schreibtisch, die Handflächen aneinander gepresst, die Fingerspitzen an den Lippen.
Nachdem er eine Weile gewartet hatte, räusperte sich John Nielsen.
»Und Sie? Was glauben Sie?«
Olle Ivarsson wandte ihm den Blick zu.
»Wo wohnen Sie eigentlich?«, fragte er.
John Nielsen sah ihn fragend an.
»Wo ich wohne?«
»Ja, heute Nacht!«, zischte der andere und schüttelte irritiert den Kopf. »Wo hatten Sie vor zu schlafen?«
John Nielsen schüttelte seinerseits den Kopf. »Ich fahre heute Abend wieder...«
Olle Ivarsson ließ ihn nicht aussprechen.
»Und das nennen Sie journalistisches Arbeiten? Was zum Teufel wollen Sie denn an einem einzigen Vormittag schon herausbekommen? Sie können bei mir wohnen. Wenn Sie sich ordentlich benehmen.«
John Nielsen versuchte zu protestieren, aber der Polizist war aufgestanden und bereits auf dem
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