Verschollen
von Blut heraussickerte.
»Genau hier«, sagte er mit leiser Stimme. »Von hier aus geht's direkt ins Gehirn. Vorsichtig, man kann jeden Millimeter spüren...«
Die Augen des Mannes waren vor Angst weit aufgerissen.
»Sie stecken! Sie sind im Wagen, zum Teufel!«
Er ließ das Messer noch einen Augenblick an derselben Stelle verweilen, bevor er es wegnahm. Er sah, wie sich das Blut im Auge sammelte und die Wange hinunterrann. Dann erhob er sich, warf den Mann auf den Bauch, drehte seine Arme auf den Rücken, fingerte das Klebeband aus seiner Tasche und wickelte es einige Male um Hände und Handgelenke. Mit den Beinen verfuhr er auf die gleiche Weise.
Der Hund im Zwinger hörte nicht auf zu bellen. Er warf einen Blick hinüber zu den zwei benachbarten Häusern, die nur wenige hundert Meter entfernt standen. Unbewohnt. Vernagelte Fenster, die Hofeinfahrten zugewachsen. Er machte einen Schritt über den Gefesselten und ging hinein ins Haus. Das Telefon stand im Flur, er riss den Hörer ab und warf ihn in die Ecke. Dann begann er seinen Rundgang. Eine Küche. Ein Wohnzimmer, sparsam möbliert. Durch die angelehnte Tür des Schlafzimmers sah er das Einzelbett, das ihm bestätigte, was er sich schon gedacht hatte: dass der alte Mann hier alleine wohnte.
Er schloss die Tür mit einem Gefühl großen Unbehagens, ein Gefühl, das ihn immer dann befiel, wenn er zu nahe mit dem Leben anderer Menschen in Berührung kam. Fotografien, Schmuck, Erinnerungen, Kleider. Alles, was ein intimes, vertrautes Zeugnis von ihnen ablegen konnte. Und die Gerüche, ihre Gerüche, die überall waren, überall klebten und hängenblieben...
Er drehte sich um und ging eilig nach draußen. Der Mann lag unverändert in derselben Stellung. Einen Augenblick erwog er, auch seinen Mund zu verkleben. Als er jedoch den ruckartigen, angestrengten Atem hörte, entschied er sich anders. Wie alt mochte er sein? Siebzig, fünfundsiebzig? Er würde das womöglich nicht überleben, und von seinem Tod hatte er keinerlei Nutzen.
Er beugte sich zu ihm hinunter, packte ihn an seiner Kleidung und zerrte ihn in den engen Flur. Dort ließ er ihn fallen und wischte sich die Hände an der Hose ab.
Dann machte er einen Schritt nach hinten, holte aus und trat ihm kräftig in die Seite.
»Verdammter alter Sack! Sei froh, dass du noch lebst, du Arsch! Sag bloß keinem ein Wort, sonst wirst du es bitter bereuen...«
Er flüsterte nun nicht mehr, sondern ließ seine Stimme absichtlich lauter, derber und brutaler werden, versuchte sie gewalttätig und unbeherrscht klingen zu lassen. Er versetzte dem Alten noch einen Tritt und hörte, wie dieser in einer Mischung aus Angst und Schmerz aufheulte, ehe er hinausging und die Tür hinter sich schloss.
In Ånge bog er ab, fuhr ins Landesinnere Richtung Süden. Es waren kaum Autos unterwegs. Keine Polizeiwagen. Wahrscheinlich würde es Stunden dauern, bevor eine Fahndung herausgegeben werden würde. Er fuhr gemächlich, nie zu schnell. Er war gelassen und ruhig, beobachtete aber dennoch genau den Verkehr.
In regelmäßigen Abständen kehrte er in Gedanken zu der Szene am Kahlschlag zurück, ließ sie vor seinem inneren Auge Revue passieren, Moment für Moment. Eigentlich war das alles ein großer Glücksfall gewesen, ein Zusammenspiel von Zufällen. Dennoch hatte er das Gefühl, dass dahinter noch etwas anderes stand. Ein Muster. Eine Kraft. Ein Wille. Sie hatte nach ihm gerufen. Hatte ihn zu sich zurückgerufen. Sie hatte nicht vor, ihn freizugeben.
Das Gesicht von Kennet Eriksson tauchte vor ihm auf. Sein schwerfälliges, grübelndes Erstaunen. Woran konnte er sich erinnern? Was begriff er von der ganzen Sache überhaupt?
Es wäre vermutlich das Beste, sofort wieder zu verschwinden, unterzutauchen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Aber er wusste, was er als Nächstes tun musste. Er starrte aus dem Fenster auf die monotone, gerade Straße. Es dämmerte schon. Der Himmel war eine metallisch glänzende Scheibe, die sich gegen den dunklen Wald absetzte. Erneut lauschte er in sich hinein. Sie hatte ihn gerufen. Und er hatte versprochen, zurückzukommen.
2
Nielsen stolperte unsicher den Kiesweg hinauf, schwankte hin und her und hielt den Blick dabei starr auf die Außenbeleuchtung gerichtet. Die Übelkeit kam in Wellen. Nur wenige Schritte vor der Treppe war er gezwungen umzudrehen. Er taumelte auf den Rasen und übergab sich.
»Verdammt noch mal, Nielsen, was machst du bloß für Sachen?«, stöhnte er. Vorsichtig richtete
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