Verschwiegen: Thriller (German Edition)
beruht.
Im Kontext eines Verbrechens ist ein anderes Hauptsymptom für Narzissmus wichtig: fehlendes Mitgefühl. Jacob zeigt eine ungewöhnliche Gefühlskälte gegenüber anderen Menschen, selbst gegenüber Ben und seiner Familie, was mich in diesem Zusammenhang wirklich überrascht hat. Als ich Jacob bei einer unserer Sitzungen danach fragte, meinte er, jeden Tag würden Millionen von Menschen sterben und dass ein Tod durch einen Autounfall statistisch wesentlich wahrscheinlicher sei als durch Mord, und auch Soldaten würden zu Tausenden Menschen umbringen und dafür sogar noch mit Medaillen ausgezeichnet. Wozu so viel Aufhebens um einen ermordeten Jungen machen? Selbst als ich ihn dann wieder auf das Thema Ben Rifkin und seine Familie zurückführte, um ihm Mitgefühl für Ben zu entlocken, war er dazu nicht in der Lage, oder er wollte es nicht zeigen. Das alles passt zu den Zwischenfällen, die Sie mir aus seiner Kindheit geschildert haben: Kinder, die sich in seiner Nähe verletzten, von Spielgeräten oder Fahrrädern fielen und dergleichen mehr.
Im Vergleich zu sich selbst nimmt er andere Menschen nicht nur als weniger wichtig, sondern auch als weniger menschlich wahr. Er sieht in den anderen nicht einen Spiegel seiner selbst. Er kann sich offenbar nicht vorstellen, dass andere die gleichen Gefühle empfinden wie er – Schmerz, Trauer, Einsamkeit –, und das ist etwas, was Teenager in diesem Alter normalerweise ohne Probleme leisten können. Ich will darauf nicht näher eingehen. In einem forensischen Zusammenhang ist diese Störung natürlich sehr wichtig. Ohne Mitgefühl ist alles erlaubt. Moral wird dann sehr subjektiv und beliebig.
Die gute Nachricht ist, dass Narzissmus nicht auf einer chemischen Störung beruht und auch nicht genetisch verankert ist. Es ist eine Verhaltensstörung, die funktioniert wie eine tiefsitzende Gewohnheit, und das bedeutet, dass man sie auch wieder ablegen, das heißt, dass man umlernen kann.«
Die Ärztin machte eine kaum wahrnehmbare Pause.
»Die andere Störung ist gravierender: Bindungsstörung, oder auch Reactive Attachment Disorder, wurde erst vor Kurzem als klinischer Befund definiert. Es liegen daher nur begrenzt Forschungsergebnisse vor. Sie ist selten, schwer zu diagnostizieren und schwer zu therapieren.
Auslöser für diese Krankheit ist eine Störung der emotionalen Bindungsmuster in der frühen Kindheit. In der Theorie bauen Kleinkinder eine enge Bindung zu einer verlässlichen Bezugsperson auf und erkunden von dieser emotional sicheren Basis aus die Welt. Sie verlassen sich darauf, dass ihre emotionalen und physischen Bedürfnisse von dieser einen Bezugsperson erfüllt werden. Wo diese Bezugsperson fehlt oder zu oft wechselt, besteht die Gefahr, dass Kleinkinder verhaltensauffällig werden: Sie sind aggressiv, wütend, neigen zur Lüge, zeigen Grausamkeit und einen Mangel an Einsicht; oder sie zeigen übergroße Zutraulichkeit, sind hyperaktiv und gefährden sich selbst.
Eine Störung in der frühen Kindheit bei der Betreuung des Kleinkindes, meist durch Misshandlung oder Vernachlässigung durch Eltern oder Betreuer, ist mithin gleichsam eine Voraussetzung für diese Verhaltensauffälligkeit. Aber es ist nicht ganz klar, was das in letzter Konsequenz heißt. Ich will nicht behaupten, dass Sie in irgendeiner Weise verantwortlich sind. Es geht hier nicht um Ihre Rolle als Eltern. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen nämlich, dass dieser Befund auch dann auftreten kann, wenn die kleinkindliche Betreuung normal verläuft. Manche Kinder scheinen eine Veranlagung zur Bindungsstörung zu haben, und da können schon kleinste Veränderungen, wie der Aufenthalt in einer Kinderkrippe oder ein Personenwechsel bei der Betreuung, als Auslöser eine Rolle spielen.«
»Die Kinderkrippe?«
»Ja, in Ausnahmefällen.«
»Jacob war in der Krippe, seit er drei Monate alt war. Wir haben beide gearbeitet. Ich habe als Lehrerin erst aufgehört, als er vier war.«
»Wir wissen noch nicht genug, um einen einfachen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung herstellen zu können. Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Es gibt überhaupt keinen Grund zu der Annahme, dass Sie Ihren Sohn vernachlässigt haben. Jacob kann einfach zu jener Gruppe hyperaktiver und sensibler Kleinkinder gehört haben. Das ist ein relativ junges Forschungsgebiet. Wir arbeiten noch daran, die Einzelheiten zu begreifen.«
Dr. Vogel warf Laurie einen aufmunternden Blick zu, aber in ihrer Stimme schwang
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