Verschwiegen: Thriller (German Edition)

anzusehen und darauf zu warten, bis sie den nächsten Schlag ins Gesicht erhielt. Sie verteidigte Jacob mit aller Kraft, sie kalkulierte jeden einzelnen Zug und Gegenzug, fest entschlossen, ihn bis zum Ende zu beschützen.
    »Ich werde erst meine Schlussfolgerungen etwas erläutern und dann Ihre Fragen beantworten, falls Sie welche haben, einverstanden?«, begann die Ärztin. »Ich weiß, schlechte Nachrichten in Bezug auf Jacob sind für Sie nicht leicht zu ertragen, aber halten Sie in paar Minuten durch. Hören Sie erst zu, dann können wir über alles reden.«
    Wir nickten.
    »Nur damit Sie es wissen: Die Staatsanwaltschaft wird weder erfahren, was Frau Dr. Vogel Ihnen mitzuteilen hat, noch was wir hier diskutieren. Machen Sie sich keine Sorgen. Das bleibt alles in diesen vier Wänden. Wir können also offen miteinander reden, einverstanden?«
    Wieder nickten wir.
    »Ich begreife nicht, warum wir das hier veranstalten«, warf ich ein. »Warum ist das alles nötig, wenn unser Argument ganz klar lautet, dass Jacob unschuldig ist?«
    Jonathan strich sich über den Bart.
    »Ich hoffe nur, Sie behalten recht. Ich hoffe, der Prozess läuft so gut, dass wir auf dieses Thema nicht eingehen müssen.«
    »Und warum dann das hier?«
    Jonathan wandte sich etwas ab, so als ob für ihn die Frage beantwortet wäre.
    »Warum, Jonathan?«
    »Weil vieles gegen Jacobs Unschuld spricht.«
    Laurie zuckte zusammen.
    »Damit will ich nicht sagen, dass er schuldig ist, aber es gibt viele Indizien, die gegen seine Unschuld sprechen. Die Anklage hat die wichtigsten Zeugen noch gar nicht aufgerufen. Das wird für uns alles noch sehr, sehr viel schwieriger. Und ich will vorbereitet sein, und Sie, Andy, sollten das eigentlich begreifen.«
    »Gut«, fuhr die Ärztin dazwischen. »Ich habe Jonathan gerade meinen Bericht abgeliefert. Es ist ein vorläufiger Befund, in dem ich meine Beobachtungen zusammenfasse. Es ist meine Aussage, falls ich als Zeugin aufgerufen werde, und was zur Sprache käme, wenn es während des Prozesses um dieses Thema geht. Ich möchte mit Ihnen allein, das heißt in Abwesenheit von Jacob, sprechen. Mit ihm habe ich noch nicht darüber geredet. Wenn der Prozess vorüber ist und abhängig davon, wie er ausgeht, können wir uns mit Einzelfragen und Therapiemöglichkeiten beschäftigen. Aber im Augenblick geht es um den Prozess. Ich bin als Expertin beauftragt worden, die Verteidigung im Hinblick auf ein spezifisches Thema zu unterstützen. Und deshalb ist Jacob im Augenblick nicht hier bei uns. Wenn das Verfahren abgeschlossen ist, liegt viel Arbeit vor ihm. Jetzt, in diesem Moment, sollten wir offen über seine Probleme reden, und das ist in seiner Abwesenheit vermutlich einfacher.
    Bei Jacob lassen sich relativ eindeutig Symptome für zwei klinisch erfasste Persönlichkeitsstörungen erkennen: Narzissmus und Bindungsstörung. Es gibt auch Hinweise auf eine antisoziale Persönlichkeitsstörung, was oft als Folgeerkrankung auftritt, aber bei dieser letzten Störung bin ich nicht sicher und habe sie deshalb in meinem Bericht nicht aufgeführt.
    Nicht alle Störungen sind krankhaft, auch nicht in ihrer Kombination, das ist wichtig zu wissen. Jeder Teenager ist bis zu einem gewissen Grad narzisstisch, und auch Erwachsene schlagen sich mit Bindungsproblemen herum. Es geht hier um den Grad der Störung. Wir reden hier nicht über ein Monster. Wir reden über einen normalen Teenager – der das Maß der Normalität um ein paar Grade übersteigt. Ich will also nicht, dass Sie meine Diagnose als eine Verurteilung auffassen. Vielmehr liegt mir daran, dass Sie sie für sich nutzen, ich möchte Ihnen Werkzeuge an die Hand geben, um Ihrem Sohn zu helfen. Wir wollen Jacob besser verstehen, einverstanden? Laurie? Andy?«
    Wir folgten ihren Worten und waren einverstanden, wenn auch nur halbherzig.
    »Gut. Kommen wir zum Narzissmus. Davon haben Sie sicher schon einmal etwas gehört. Die wichtigsten Symptome sind Selbstüberschätzung und Mangel an Mitgefühl. Bei Jacob tritt die Selbstüberschätzung nicht in Form von Arroganz, Prahlerei und Hochmut auf, so wie man das landläufig annehmen würde. Seine Form von Selbstüberschätzung ist stiller, introvertierter: Er hält sich für etwas Besonderes. Regeln gelten nur für andere, von Gleichaltrigen fühlt er sich unverstanden, besonders von seinen Mitschülern. Es gibt einige Ausnahmen, und diese Jungen sind in seinen Augen ebenso besonders wie er, was meist auf ihrer Intelligenz