Verschwiegen: Thriller (German Edition)
selbst und doch ganz anders, vertraut und zugleich fremd. Es ist wie das eigene Ich, das noch einmal von vorne anfangen darf, und zugleich ist es ein Fremder und so geheimnisvoll wie jedes Gegenüber. Inmitten dieser widerstrebenden Eindrücke berührte ich mit dem Arm, der immer noch auf der Stuhllehne lag, Jacobs Schulter.
Schuldbewusst legte er seine Hände flach in den Schoß, denn er hatte wieder damit begonnen, die Wunde an seinem rechten Daumen aufzukratzen, und bereits ein kleines Hautstück weggeschabt.
Direkt hinter mir saß Laurie wieder ganz allein in der vorderen Bank. Freunde hatten wir in Newton natürlich keine mehr. Ich wollte veranlassen, dass Lauries Eltern im Gerichtssaal an der Seite ihrer Tochter saßen. Doch Laurie wollte nichts davon wissen. Sie spielte ein wenig die Märtyrerin. Durch ihre Heirat mit mir hatte sie ihre Familie in die Katastrophe getrieben, und jetzt wollte sie allein den Kopf dafür hinhalten. Wenn ich mich umdrehte, sah ich sie immer genauso dasitzen – einsam, geistesabwesend, mit halb verschränkten Armen, ihr Kinn auf eine Hand gestützt und den Blick auf den Boden gerichtet anstatt auf den Zeugenstand. Die Nacht zuvor war Laurie von der Diagnose der Ärztin derart am Boden zerstört gewesen, dass sie um eine meiner Schlaftabletten gebeten hatte, aber dennoch nicht einschlafen konnte. »Und was ist, wenn er doch schuldig ist? Was machen wir dann, Andy?«, hatte sie mich gefragt. Ich antwortete, dass uns im Augenblick nichts anderes blieb, als das Urteil der Jury abzuwarten. Als guter Ehemann versuchte ich, mich an sie zu schmiegen, um sie zu trösten. Doch meine Berührung verstörte sie nur noch mehr, und sie wich bis an die Bettkante aus. Dort blieb sie ganz still liegen, doch ihre leichten Bewegungen und Seufzer verrieten sie. Als sie noch als Lehrerin arbeitete, hatte Laurie immer tief und fest geschlafen. Manchmal ging sie schon um neun ins Bett, denn sie musste morgens früh raus, und sobald sie ihren Kopf aufs Kissen legte, war sie auch schon eingeschlafen. Aber das war noch eine andere Laurie gewesen.
Im Gerichtssaal war Logiudice offenbar fest entschlossen, die Zeugin, die sichtbar mit den Nerven fertig war, um jeden Preis zu einer Aussage zu drängen. Unter strategischen Gesichtspunkten leuchtete Logiudices Taktik nicht ein. Vermutlich wollte er Jonathan nicht die Genugtuung verschaffen, der Zeugin die letzte Frage zu stellen. Oder vielleicht hoffte er ja immer noch verzweifelt auf eine brauchbare Antwort. Dieser Dickkopf gab einfach nicht auf. Es hatte auf eine merkwürdige Weise etwas Ehrenhaftes, so wie bei einem Kapitän, der mit seinem Schiff untergeht, oder einem Mönch, der sich zur Selbstverbrennung mit Benzin übergießt. Als Logiudice endlich zu seiner letzten Frage kam – er war bei der Vernehmung einem schriftlich notierten Plan gefolgt, während die Zeugin sich an kein Skript hielt –, legte Jonathan seinen Füller beiseite und beäugte ihn kritisch.
»Sitzt der Junge, den Sie an jenem Morgen im Cold Spring Park bemerkten, hier im Gerichtssaal?«, lautete die Frage.
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Passt die Beschreibung, die Sie uns von dem Jungen aus dem Park gegeben haben, auf diesen Jungen hier?«
»Ich bin mir wirklich nicht sicher. Es war ein Teenager, da bin ich mir ganz sicher. Aber das ist alles schon so lange her. Je mehr ich überlege, desto unsicherer werde ich. Ich möchte keinen Jungen ins Gefängnis bringen, wenn ich mir nicht ganz sicher bin. Da würde ich meines Lebens nicht mehr froh.«
Judge French seufzte tief. Er hob die Augenbrauen und setzte seine Brille ab. »Ich nehme an, Sie haben keine Fragen, Mister Klein.«
»Nein, Euer Ehren.«
»Das dachte ich mir.«
Der restliche Tag verlief für Logiudice nicht viel besser. Er hatte seine Zeugen nach logischen Kriterien in Gruppen aufgeteilt, und heute waren zivile Zeugen dran. Spaziergänger, die nichts bemerkt hatten, das Jacob irgendwie belastete. Aber die Anklage stand auf tönernen Füßen, und Logiudice musste alle Zeugen auffahren, die er hatte. Und so erfuhren wir von zwei weiteren Augenzeugen, die Jacob beide im Park gesehen haben wollten, aber nicht in der Nähe des Tatorts. Eine weitere Zeugin wollte jemanden beobachtet haben, der vom Tatort wegrannte. Sie konnte keine Angaben zum Alter oder der Identität des Flüchtigen machen, doch die Kleidung stimmte in etwa mit jener überein, die Jacob an diesem Tag trug. Jeans und eine helle Jacke waren in einem Park,
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