Verschwiegen: Thriller (German Edition)
Entschuldigung.«
»Egal, wie Sie es formuliert haben! Es geht darum, was Sie denken. Und ist das Herz meines Sohnes zwei Nummern zu klein?«
»Wir reden über Jacobs emotionale Reife, es geht nicht um sein Herz. Und seine Reife entspricht nicht seiner Altersgruppe.«
»Und welchem Alter entspricht sie dann?«
Sie holte tief Luft. »Jacob zeigt Verhaltensmerkmale, die einem Jungen entsprechen, der halb so alt ist wie er.«
»Sieben! Mein Sohn hat die emotionale Reife eines Siebenjährigen! Das wollen Sie doch damit sagen, oder?«
»So habe ich es nicht formuliert.«
»Und was soll ich jetzt machen?!«
Keine Antwort.
»Was soll ich jetzt machen?«
»Nicht so laut«, ermahnte ich sie. »Er könnte dich hören.«
Neunundzwanzigstes Kapitel
Der brennende Mönch
Es war der dritte Tag vor Gericht.
Jacob saß neben mir auf der Verteidigungsbank und zupfte an einem Stückchen Haut an seinem rechten Daumennagel. Er hatte schon eine ganze Weile daran herumgeschabt, und auf diese Weise war ein kleiner Riss zwischen Nagelhaut und Fingergelenk entstanden. Anders als die meisten Teenager kaute er nicht an der Nagelhaut herum, sondern kratzte und schabte mit dem Fingernagel daran, bis sich kleine Hautstreifen lösten, an denen er zog und zerrte. Wenn alles nichts half, durchtrennte er sie kurzerhand mithilfe eines Fingernagels. Die Wunde hatte keine Chance zu heilen, und manchmal, wenn er sich allzu sehr daran zu schaffen machte, sickerte Blut heraus, und er drückte entweder ein Papiertaschentuch darauf, wenn er eines zur Hand hatte, oder er steckte den Finger einfach in den Mund und saugte daran herum. Entgegen jeder Logik schien er zu glauben, dass niemand in seiner Umgebung an diesem ekeligen Spektakel Anstoß nahm.
Ich nahm die Hand, die er gerade malträtierte, und legte sie in seinen Schoß, wo sie die Geschworenen nicht sehen konnten. Dann schob ich meinen Arm beschützend über seine Stuhllehne.
Eine Frau machte im Zeugenstand ihre Aussage. Sie hieß Ruthann Irgendwie und war um die fünfzig. Sympathisches Gesicht, kurzer, praktischer Haarschnitt. Ihr Haar war stark ergraut, eine Tatsache, die sie nicht zu verbergen suchte. Außer einem Ehering und einer Uhr trug sie keinen Schmuck. Schwarze Clogs. Sie war eine von den Nachbarinnen, die jeden Morgen ihre Hunde im Cold Spring Park ausführten. Angeblich hatte sie an jenem Morgen einen Jungen bemerkt, der Ähnlichkeit mit Jacob hatte. Hätte sie genau das ausgesagt, dann wäre es brauchbares Beweismaterial gewesen. Aber ihr fiel die Zeugenrolle offensichtlich schwer. Sie dachte lange über ihre Antworten nach, und am Ende wog ihr ängstliches Zögern schwerer als ihre Aussagen, die nicht viel hergaben.
»Können Sie uns den Jungen beschreiben?«, fragte Logiudice.
»Er war mittelgroß, glaube ich. Ein Meter siebzig oder so, er trug Jeans und Turnschuhe und hatte dunkles Haar.«
Was sie da beschrieb, war kein Junge, sondern ein Phantom. Die Merkmale trafen auf etwa die Hälfte aller Jungen in Newton zu. Sie tat weiter herum, bis Logiudice sich endlich veranlasst sah, in seine Fragen Details aus ihrer ursprünglichen Aussage vor der Polizei einzustreuen, um ihr auf die Sprünge zu helfen. Diese Taktik rief Jonathan auf den Plan, der Einspruch erhob, und nach einer Weile wurde das Ganze immer lächerlicher. Die Zeugin war schon drauf und dran, ihre Personalien zu wiederholen, Logiudice hatte vor lauter Anspannung den Augenblick verpasst, sie aus dem Zeugenstand zu holen, und Jonathan sprang immer wieder auf, um erneut Einspruch zu erheben …
In meiner Wahrnehmung verschwamm alles und trat in den Hintergrund. Ich schaffte es nicht mehr, mich zu konzentrieren, und es spielte auch keine Rolle mehr. Mir dämmerte, dass dieses ganze Verfahren nicht mehr wichtig war. Es war bereits zu spät. Das Urteil von Dr. Vogel war mindestens genauso relevant wie das Gerichtsurteil am Ende des Prozesses.
Neben mir saß Jacob, dieses rätselhafte Wesen, das Laurie und ich gezeugt hatten. Seine Körpergröße, seine Ähnlichkeit mit mir, die über die Jahre immer deutlicher zutage treten würde, brachen mir das Herz. Jeder Vater kennt vermutlich diesen verstörenden Augenblick, in dem er das eigene Kind als eine merkwürdig verzerrte Kopie von sich wahrnimmt. Es ist, als ob sich einen Moment lang zwei Identitäten übereinanderschieben würden. Vor einem steht die Vorstellung, die man von sich selbst als Junge hat, und ist zu Fleisch und Blut geworden. Das Kind ist wie man
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