Verschwiegen: Thriller (German Edition)
und Ermittler keine Rolle. Verwaltungsarbeit läuft oft in solch schäbiger Umgebung ab. Nach einer Weile nimmt man das gar nicht mehr wahr.
An den meisten Tagen sitze ich bereits um halb acht oder acht an meinem Schreibtisch, die Telefone stehen dann meist noch still, es ist noch eine Stunde bis zum offiziellen Weckruf um halb neun. Doch aufgrund der Wiedereröffnung von Jacobs Schule wurde es an diesem Morgen später als neun. Ich wollte mich sofort an die Rifkin-Akte machen, schloss also meine Tür, setzte mich und breitete die Fotos vom Tatort auf meinem Schreibtisch aus. Einen Fuß auf eine offene Schublade gestützt, lehnte ich mich zurück und nahm die Bilder in Augenschein.
An den Schreibtischecken hatte sich das Laminat vom Pressholz abgelöst. Ich hatte die nervöse Angewohnheit, unbewusst an diesen Ecken herumzuknibbeln und das Laminat wie eine Wundkruste abzupulen. Ich war mitunter überrascht, das rhythmische Klackern zu hören, wenn ich es hochklappte und dann wieder herunterschnellen ließ. So hörte sich für mich Konzentration an. Und in meinem Hirn ratterte es an jenem Morgen.
Etwas an den Ermittlungen lief nicht rund und weckte ein seltsames Gefühl in mir. Für fünf Tage intensiver Arbeit war alles viel zu ruhig. Es hört sich an wie ein Klischee, aber es stimmt: Die meisten Fälle werden schnell gelöst, und zwar in den ersten Stunden und Tagen der Aufregung nach der Mordtat, in diesem lauten Durcheinander aus Beweisen, Theorien, Vorstellungen, Zeugenaussagen, Anklagen, Spekulationen. Bei manchen Fällen dauert es ein bisschen länger, aus all diesem Getöse das richtige Signal herauszuhören, die Wahrheit inmitten der Spekulation. Und sehr selten bleiben Fälle ungelöst. Aus dem Getöse dringt kein Signal zu einem durch. Dafür gibt es unzählige Spekulationen, die alle überzeugend klingen, aber für keine gibt es ausreichende Beweise, und so wird der Fall geschlossen. Immer gibt es Verdächtige, Theorien, Möglichkeiten, die man nicht außer Acht lassen darf. Doch im Rifkin-Mord gab es das alles nicht. Fünf Tage Schweigen. Jemand hatte drei Löcher in die Brust eines Jungen gebohrt und keinerlei Hinweise auf Identität und Tatmotiv hinterlassen.
Wir alle waren beunruhigt, ich, die Ermittler, sogar die Bewohner der Stadt. Ich hatte das Gefühl, dass ich manipuliert und an der Nase herumgeführt wurde. Mir wurde etwas vorenthalten. Jacob und seine Freunde haben dafür einen Ausdruck, mindfuck, Verarschung : Man schikaniert jemanden, indem man ihn irreführt, meist indem man ihm etwas Wichtiges vorenthält. Ein Mädchen tut so, als wäre es in einen Jungen verliebt – das ist Verarschung. In einem Film wird am Ende etwas Wichtiges offenbart, was das Geschehen im Nachhinein verändert oder erklärt – Der sechste Sinn oder Die üblichen Verdächtigen sind solche Filme. Jake nennt sie Verarschung. Und der Fall Rifkin fühlte sich mittlerweile an wie eine Verarschung. Die einzige Erklärung für diese absolute Stille nach der Mordtat war, dass jemand alles geplant hatte. Dort draußen gab es jemanden, der alles beobachtete, der sich an unserer Unwissenheit und Herumtapperei ergötzte. Während die Ermittlungen zu einem Gewaltverbrechen laufen, verspürt man oft einen gerechtfertigten Hass auf den Kriminellen, noch bevor man irgendeine Ahnung hat, um wen es sich handelt. Normalerweise blieb ich von dieser leidenschaftlichen Anwandlung verschont, doch in diesem Fall konnte ich den Mörder schon jetzt nicht ausstehen. Weil er diesen Mord begangen hatte und weil er uns verarschte. Weil er sich nicht ergab. Weil er die Lage im Griff hatte. Sobald mir sein Name und sein Gesicht bekannt würden, müsste ich meine Verachtung für ihn nur noch in die passende Dimension bringen.
Auf den Fotos vom Tatort lag ein Körper im Laub, unnatürlich verrenkt, das Gesicht zum Himmel gewandt, die Augen geöffnet. Die Bilder waren an sich nicht besonders gruselig, sie zeigten einen Jungen, der im Laub lag. Ich war auch nicht sehr anfällig für Gruselgefühle. Wie so viele, die viel mit Gewalt zu tun haben, halte ich meine Emotionen unter Kontrolle. Seit meiner Kindheit habe ich darauf immer geachtet. Ich habe meine Gefühle eisern im Griff.
Benjamin Rifkin war vierzehn Jahre alt und besuchte den achten Jahrgang der McCormick-Schule. Jacob war sein Klassenkamerad gewesen, hatte ihn aber kaum gekannt. Seinen Worten nach war Ben in der Schule als einer von denen verschrien gewesen, die vor allem rumhängen,
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