Verschwiegen: Thriller (German Edition)
dabei.«
Ich betrachtete das Polizeifoto. Von der ersten Sekunde an hatte ich, was Patz anging, so ein Gefühl. Ja, ich saß in der Klemme, und ich wollte dieses Gefühl haben. Ich brauchte dringend einen Verdächtigen und musste endlich Ergebnisse liefern, und deshalb hatte ich gegenüber meinem Verdacht Vorbehalte. Aber ignorieren konnte ich ihn deswegen nicht. Man muss seiner Intuition folgen. Denn darin genau besteht Fachkompetenz: in der Berufserfahrung, die man gesammelt hat. All die Fälle, die man verloren oder gewonnen hat, die ärgerlichen Fehler, die man gemacht hat, all die technischen Einzelheiten, die man sich durch ständiges Wiederholen angeeignet hat, fügen sich mit der Zeit zu einem instinktiven Jobverständnis. Das Ganze geht einem in Fleisch und Blut über, wird zu einem Bauchgefühl. Und von der ersten Begegnung an sagte mir mein Bauch, dass wir mit Patz vielleicht den richtigen Mann gefunden hatten.
»Auf jeden Fall sollte man ihn mal so richtig in die Zange nehmen«, sagte ich.
»Da ist nur eins: In der Akte steht nichts von Gewalt. Keine Waffen, nichts dergleichen. Das ist nicht unwichtig.«
»Ich sehe da zwei Fälle von sexueller Belästigung. Für mich ist das genug Gewalt.«
»Einem Kid an die Eier zu langen ist nicht das Gleiche wie Mord.«
»Irgendwo muss man anfangen.«
»Schon. Aber ich weiß nicht so recht, Andy. Ich sehe, worauf du hinauswillst, aber für mich ist das eher einer von diesen Wichsern und kein Mörder. Und die Sache mit dem Sex – bei Rifkin gibt es keine Anzeichen für sexuellen Missbrauch.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist es dazu einfach nicht mehr gekommen. Vielleicht ist er gestört worden. Vielleicht hat er den Jungen belästigt oder ihn mit einem Messer in den Wald gedrängt, und der hat sich gewehrt. Oder vielleicht hat der Junge ihn ausgelacht, sich über ihn lustig gemacht, und Patz hat vor Wut die Nerven verloren.«
»Ganz schön viele Vielleichts.«
»Na, schauen wir mal, was er uns zu erzählen hat. Bring ihn her.«
»Das kann ich nicht. Wir haben keinen Grund, ihn vorzuladen. Es gibt nichts, was ihn mit dem Fall in Verbindung bringt.«
»Dann erzähl ihm, du willst dir zusammen mit ihm Fahndungsfotos anschauen, weil er vielleicht jemanden erkennt, den er im Cold Spring Park gesehen hat.«
»Für sein anhängiges Verfahren hat er schon einen Pflichtverteidiger. Freiwillig wird er nicht kommen.«
»Dann erzählt ihm, dass er sich strafbar gemacht hat, weil er der Stelle für Sexualverbrechen seine neue Adresse nicht angegeben hat. Dann hast du ihn schon mal an den Eiern. Erzähl ihm, dass die Kinderpornos auf seinem Computer eine Straftat sind. Erzähl ihm, was du willst, es spielt keine Rolle, bring ihn nur hierher, und dann gehen wir ihm ein bisschen an die Eier.«
Duffy grinste und zog die Augenbrauen hoch. Diese Art von Witzen kommt immer gut an.
»Nun hol ihn einfach.«
Duffy zögerte. »Ich weiß nicht, irgendwie ist mir das zu voreilig. Warum zeigen wir nicht einfach ein bisschen das Foto von Patz herum und schauen, ob ihn an jenem Morgen irgendjemand im Park gesehen hat? Hören uns bei seinen Nachbarn um. Klopfen kurz bei ihm an, ganz freundlich, ohne ihn zu erschrecken, und bringen ihn so zum Reden.« Duffy machte mit seinen Fingern einen Schnabel nach, den er auf- und zuklappte: Blah, blah, blah.
»Nein, es ist besser, wenn wir ihn direkt hierherbringen. Dann kannst du ihn aushorchen, Duff. Das kannst du ja gut.«
»Bist du dir sicher?«
»Wir wollen uns nicht vorwerfen lassen, wir hätten uns diesen Typen nicht genau genug angesehen.«
Der Kommentar war ungeschickt, und prompt bekam Duffys Gesichtsausdruck etwas Zweifelndes. Wir hatten es uns immer zur Vorgabe gemacht, die Meinung der Allgemeinheit nicht zu beachten. Das Urteil eines Staatsanwalts sollte mit Politik nichts zu tun haben.
»Du weißt schon, was ich meine, Paul. Das ist der erste brauchbare Verdächtige, den wir haben. Ich will nicht, dass wir ihn verlieren, weil wir uns nicht genügend angestrengt haben.«
»Meinetwegen«, erwiderte er mit säuerlicher Miene. »Ich bring ihn her.«
»Gut.«
Duffy lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Der Teil unserer Unterhaltung, der mit Arbeit zu tun hatte, war erledigt. Jetzt wollte er die Meinungsverschiedenheit zwischen uns ausbügeln.
»Wie lief’s heute Morgen mit Jacob und der Schule?«
»Oh, ihm geht’s gut. Er ist nicht aus der Ruhe zu bringen. Mit Laurie sieht es anders aus …«
»Sie ist ein
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