Verschwiegen: Thriller (German Edition)
erwachsen zu werden und den Kinderkram hinter sich zu lassen. Aber etwas war trotzdem auf der Strecke geblieben. Im Laufe von Lynns Wandlung vom Schmetterling zur Motte hatte unsere langjährige Freundschaft gelitten. Keiner von uns beiden war dem anderen noch so nahe wie einst, das alte Vertrauen und die Nähe waren dahin. Vielleicht würde sie mich eines Tages zum Richter machen, im Andenken an alte Zeiten und um einen Schlussstrich zu ziehen. Aber ich glaube, wir wussten beide, dass unsere Freundschaft abgeflaut war. Wenn wir zusammen waren, hatten wir beide ein Gefühl verlegenen Bedauerns, so wie zwei Liebende am Ende ihrer Affäre.
Lynn Canavans absehbarer Karrieresprung würde ein Vakuum hinterlassen, und die Politik fürchtet nichts mehr als das. Dass ausgerechnet Neal Logiudice dieses Vakuum eines Tages ausfüllen könnte, wäre früher absurd erschienen. Doch jetzt, wer konnte das wissen? Logiudice betrachtete mich nicht als Hindernis, so viel war klar. Immer wieder hatte ich betont, dass ich an Canavans Job kein Interesse hatte, und ich meinte das auch ehrlich. Ein Leben im Licht der Öffentlichkeit war so ziemlich das Letzte, das ich mir vorstellen konnte. Doch würde er noch mehr bürokratische Grabenkämpfe hinter sich bringen müssen, um auf den Posten zu gelangen. Wenn Neal Bezirksstaatsanwalt werden wollte, musste er den Wählern einen handfesten Erfolg vorweisen. Einen beeindruckenden Sieg im Gerichtssaal. Jemand würde seinen Kopf hinhalten müssen. Wer das sein würde, wurde mir gerade langsam klar.
»Lynn, ziehst du mich von dem Fall ab?«
»Im Augenblick interessiert mich lediglich deine Meinung.«
»Das hatten wir alles schon. Ich behalte den Fall. Es gibt kein Problem.«
»Der Fall hat ziemlich viel mit dir zu tun, Andy. Dein Sohn könnte in Gefahr sein. Wenn er das Pech gehabt hätte, zur falschen Zeit durch den Park zu laufen …«
Logiudice warf ein: »Vielleicht ist dein Urteilsvermögen beeinträchtigt. Ich meine, wenn du einmal so richtig und unvoreingenommen darüber nachdenkst.«
»Beeinträchtigt? In welcher Hinsicht?«
»Irgendwie gefühlsmäßig?«
»Nein.«
»Bist du verärgert, Andy?«
»Sehe ich verärgert aus?«, fragte ich zurück, jedes einzelne Wort betonend.
»Doch, schon ein bisschen. Vielleicht hast du das Gefühl, dich verteidigen zu müssen. Aber dafür gibt es keinen Grund, wir sitzen hier alle im selben Boot. Ist doch ganz natürlich, dass einen das nicht kaltlässt. Wenn mein Sohn irgendetwas damit zu tun hätte …«
»Neal, stellst du meine Integrität infrage? Oder nur meine Kompetenz?«
»Keins von beidem. Ich stelle deine Objektivität infrage.«
»Spricht er auch in deinem Namen, Lynn? Glaubst du am Ende diesen ganzen Unsinn?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich bin hellhörig geworden, um ganz ehrlich zu sein.«
»Hellhörig? Was soll das heißen?«
»Ich habe ein ungutes Gefühl.«
»Es geht um den äußeren Eindruck des Ganzen«, meinte Logiudice weiter. »Um den Eindruck. Niemand will damit sagen …«
»Jetzt hör mir mal zu, Neal! Halt deine Klappe! Das ist nicht dein Bier.«
»Bitte?«
»Lass mich einfach meine Arbeit tun. Ich schere mich nicht um irgendeinen äußeren Eindruck. Es geht bei dem Fall langsam voran, weil das einfach so ist, und nicht weil ich mich nicht reinknien würde. Ich lass mich nicht zu irgendetwas drängen, nur um Eindruck zu machen. Ich dachte, ich hätte dir das alles beigebracht.«
»Du hast mir beigebracht, an jeden Fall mit Volldampf ranzugehen.«
»Ich bin mit Volldampf dabei.«
»Und warum hast du dann die Schüler noch nicht vernommen? Es sind fünf Tage vergangen.«
»Du weißt ganz genau, warum. Weil wir nicht in Boston sind, Neal, sondern in Newton. Da muss man über jedes einzelne bescheuerte Detail verhandeln: Welche Schüler vernommen werden dürfen, wo wir sie vernehmen, welche Fragen wir ihnen stellen, wer dabei anwesend sein muss. Das ist nicht Dorchester High. Die Hälfte der Eltern an dieser Schule sind Anwälte.«
»Immer mit der Ruhe, Andy. Niemand macht dir Vorwürfe. Das Problem ist, wie das Ganze wahrgenommen wird. Von außen betrachtet, könnte jemand auf die Idee kommen, dass du das Offensichtliche ignorierst.«
»Und das wäre?«
»Die Schüler. Hast du schon darüber nachgedacht, dass ein Mitschüler der Täter sein könnte? Du hast mir doch selbst tausendmal eingebläut: Folge jeder Spur, wohin immer sie dich führt.«
»Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass es sich um einen
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