Verschwiegen: Thriller (German Edition)
und ich den Eindruck, gegen eine Wand anzurennen. Zuerst dachten wir noch, dass man uns das übliche Repertoire von adoleszenten Ausweichmanövern darbot, Achselzucken, »Sie wissen schon« und »keine Ahnung«. Beide waren wir Väter und hatten Erfahrung damit, dass Teenager Erwachsene üblicherweise auflaufen ließen. Genau darin lag der Sinn derartigen Verhaltens. An sich war das also nicht weiter auffällig. Doch mit jeder Vernehmung wurde uns klarer, dass das hier weiter ging, dass dahinter dreiste Absicht steckte. Die Kids übertrieben in ihren Antworten: Es reichte ihnen nicht zu behaupten, sie wüssten nichts, was den Mord betraf. Sie wollten das Opfer nicht einmal näher gekannt haben. Ben, so schien es, hatte keinerlei Freunde gehabt, sondern lediglich Bekannte. Andere hatten niemals ein Wort mit ihm gewechselt und hatten auch keine Ahnung, wer mit ihm jemals gesprochen hatte. Das waren klare Lügen. Ben war nicht unbeliebt gewesen. Die meisten von Bens Freunden waren uns bekannt. Die Art, wie seine Kumpels ihn so schnell und vollständig verleugneten, war blanker Verrat, fand ich.
Die Jugendlichen an der McCormick-Schule waren nicht einmal besonders geschickte Lügner, was die Sache noch schlimmer machte. Einige von ihnen, die etwas Unverschämteren, glaubten offenbar, dass einem am ehesten geglaubt wird, wenn man schamlos übertreibt. Wenn sie sich an eine besonders dreiste Lüge machten, hörten sie mit dem üblichen Fußgescharre und den Sie-wissen-schon-Gesten auf und tischten einem die Geschichte im Brustton der Überzeugung auf. Man konnte meinen, sie hätten Verhaltensregeln studiert, wie man am besten einen ehrlichen Eindruck macht (Augenkontakt, feste Stimme), und wären entschlossen, alle auf einmal anzuwenden, wie ein Pfau, der sein Rad schlägt. Für Erwachsene typisches Verhalten wurde auf den Kopf gestellt (wenn sie aufrichtig waren, wirkten die Teenager unsicher, wenn sie logen, waren sie direkt), doch auch ihr verändertes Benehmen ließ bei uns die Alarmglocken schrillen. Bei den meisten anderen Kids verstärkte das Lügen einfach nur ihre Schüchternheit. Sie wichen aus, die Wahrheit, die sie verbargen, war ihnen offensichtlich peinlich. Ich hätte ihnen natürlich erzählen können, dass ein geschickter Lügner Falschaussagen in die Wahrheit einstreut, ohne mit der Wimper zu zucken, so wie ein Falschspieler die eine gezinkte Karte zwischen die anderen schiebt. Ich weiß alles über Lügen, glauben Sie mir.
Paul und ich tauschten vielsagende Blicke. Das Tempo der Vernehmungen verlangsamte sich, als wir einige der dreistesten Lügen infrage stellten. Dazwischen machte Paul einen Witz über ein mögliches Schweigegebot. »Diese Kids sind wie Sizilianer«, meinte er. Keiner von uns beiden gestand dem anderen seine wahren Gedanken: ein Gefühl von freiem Fall, so als ob sich die Erde unter einem auftut. Endlich öffnet sich ein Fall und lässt einen herein, und es wird einem schwindelig vor Glück.
Wir hatten schon gedacht, wir lägen falsch – anders konnte man es nicht sagen. Natürlich hatten wir die Möglichkeit erwogen, dass ein Mitschüler etwas mit dem Mord zu tun haben könnte, aber es gab keine Beweise in diese Richtung. Es gab unter den Schülern keinen finsteren Außenseiter, und es fehlte die für Teenager typisch nachlässige Kette von Beweisen. Es fehlte auch das Tatmotiv: Es gab keine überspannten Teenagerfantasien in Richtung einer Existenz im gesellschaftlichen Abseits, keine verstörten Mobbingopfer, die sich rächen wollten, keine gemeine Klassenzimmerfehde. Nichts gab es. Doch nach den paar Vernehmungen musste keiner von uns ein Wort sagen. Dieses unverkennbare Glücksgefühl rührte von dem Gedanken: Die Kids wussten was.
Ein Mädchen schlappte ins Büro und ließ sich in den Stuhl uns gegenüber fallen. Sie gab sich Mühe, uns zu ignorieren.
»Sarah Groehl?«, fragte Paul.
»Ja.«
»Ich bin Lieutenant Detective Paul Duffy. Ich arbeite für die Polizei des Bundesstaates. Das hier ist Andrew Barber. Er ist stellvertretender Bezirksstaatsanwalt und betreut den Fall.«
»Ich weiß.« Sie sah mich schließlich an. »Sie sind der Vater von Jacob Barber.«
»Stimmt. Und du bist das Mädchen mit dem Pullover von heute Morgen.«
Sie lächelte schüchtern.
»Entschuldige, ich hätte dich gleich erkennen sollen. Ich habe heute einen anstrengenden Tag, Sarah.«
»Ach ja, warum?«
»Keiner will mit uns reden. Hast du irgendeine Idee, warum das so ist?«
»Weil ihr von
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