Verschwiegen: Thriller (German Edition)
bisschen durch den Wind?«
»Ein bisschen? Erinnerst du dich an diesen Film, Der weiße Hai , an die Szene, als Roy Scheider seine Kinder ins Wasser schicken soll, um zu zeigen, dass man dort beruhigt baden kann?«
»Deine Frau hat ein Gesicht gemacht wie Roy Scheider? Willst du mir das damit sagen?«
»Ihr Gesichtsausdruck war exakt der gleiche.«
»Und du hast dir keine Gedanken gemacht? Nun komm schon, ich bin sicher, dass du auch ein bisschen wie Roy Scheider aus der Wäsche geguckt hast.«
»Ich war wie Robert Shaw, glaub mir.«
»Soweit ich mich erinnere, geht das Ganze für ihn nicht gut aus.«
»Für den Hai auch nicht. Das ist das Wichtigste, Duffy. Und jetzt hol Patz.«
»Mir ist nicht so ganz wohl bei der Sache, Andy«, meinte Lynn Canavan.
Einen Augenblick lang hatte ich keine Ahnung, wovon sie eigentlich redete. Vielleicht machte sie nur einen ihrer Scherze, fuhr es mir durch den Kopf. Als wir beide jünger waren, hatte sie ihren Spaß daran, andere aufs Glatteis zu führen. Mehr als einmal nahm ich etwas für bare Münze, was sich einen Augenblick später als scherzhafte Bemerkung entpuppte. Aber im nächsten Moment war mir klar, dass sie das ernst gemeint hatte. Wenigstens sah es so aus. Sie einzuschätzen war in der letzten Zeit etwas schwierig geworden.
Wir befanden uns an jenem Morgen zu dritt in Canavans geräumigem Büro: Bezirksstaatsanwältin Canavan, Neal Logiudice und ich. Wir hatten uns um den runden Konferenztisch versammelt, in dessen Mitte von einem früheren Meeting eine leere Schachtel Dunkin’ Donuts liegen geblieben war. Der Raum sah edel aus, mit Holzverkleidung und Ausblick auf East Cambridge. Aber gleichzeitig war er genauso anonym wie der Rest des Gerichtsgebäudes: auf dem Betonfußboden die gleiche dünne, dunkellila Industrieware, an der Decke die gleiche trostlose Akustikverkleidung, die gleiche abgestandene, verbrauchte Luft. Ein armseliges Zentrum der Macht.
Canavan spielt mit ihrem Stift herum. Sie klopfte mit der Spitze gegen ihren gelben Notizblock, dabei hatte sie den Kopf zur Seite gelegt, so als würde sie gerade nachdenken. »Ich weiß nicht. Mir gefällt irgendwie nicht, dass du diesen Fall übernimmst. Dein Sohn geht in dieselbe Schule. Das liegt mir alles zu nahe beieinander. Mir ist dabei nicht wohl.«
»Dir ist nicht wohl oder unserem Rasputin hier?« Dabei zeigte ich auf Logiudice.
»Sehr witzig, Andy …«
»Mir ist nicht wohl bei der Sache«, behauptete Canavan.
»Lass mich raten: Neal will diesen Fall.«
»Neal ist der Meinung, dass es da ein Problem gibt. Und ich, ganz ehrlich gesagt, auch. Nach außen hin sieht es nach Befangenheit aus. Und das spielt eine Rolle, Andy.«
Wie etwas aussah, spielte in der Tat eine Rolle. Lynn Canavan war in der Politik auf dem aufsteigenden Ast. Seit ihrer Wahl zur Bezirksstaatsanwältin zwei Jahre zuvor kochte die Gerüchteküche: Welches Amt würde sie als Nächstes anstreben? Gouverneurin? Generalstaatsanwältin für Massachusetts? Senatsabgeordnete? Sie war zwischen vierzig und fünfzig, gut aussehend, intelligent und ehrgeizig. Ich kannte sie seit fünfzehn Jahren, seit wir beide junge Anwälte gewesen waren, und arbeitete seither mit ihr zusammen. Wir waren Verbündete. An dem Tag ihrer Wahl zur Bezirksstaatsanwältin hatte sie mich zu ihrem Stellvertreter berufen, aber ich wusste von der ersten Sekunde an, dass diese Zusammenarbeit nur von kurzer Dauer sein würde. Ein alter Kumpel aus dem Gerichtssaal wie ich hatte in der Welt der Politik kein Gewicht. Ich würde Canavan nicht weiter folgen, wohin immer ihr Weg sie führte. Aber das war Zukunftsmusik. In der Zwischenzeit saß sie ihre Zeit aus und brachte ihr persönliches Erscheinungsbild auf Vordermann, ihr Profil als knallharter Justizprofi. Vor der Kamera sah man sie selten lächeln oder scherzen. Sie trug nur wenig Make-up oder Schmuck und einen konservativen Kurzhaarschnitt. Die alten Hasen im Büro erinnerten sich noch an eine andere Lynn Canavan – lustig, mit Charisma, eine von ihnen, die trinken und fluchen konnte wie ein alter Seebär. Die Wähler kannten diese Seite nicht, und vielleicht hatte die alte, natürliche Lynn auch aufgehört zu existieren. Ich nehme mal an, sie hatte gar keine andere Wahl, als sich selbst umzukrempeln. Ihr Alltag war zu einer Endloskandidatur geworden: Man konnte ihr kaum übel nehmen, dass sie am Ende zu dem geworden war, was sie so lange angepeilt hatte. Wie auch immer, am Ende kommt keiner von uns umhin,
Weitere Kostenlose Bücher