Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
vergangenen anderthalb Stunden Uzdys niedergehaltene, aber fürchterliche Aufregung gespürt und sich deswegen sehr geängstigt. Ein Glück, dass alles ohne jede Entgleisung vor sich gegangen war. Doch warum rief ihr Uzdy etwas noch nach, als sie vor dem Haus ankam? Warum sein drohender Schrei: »Bleiben Sie in Ihrem Zimmer! Rühren Sie sich nicht weg! Verstanden? Dass Sie ja dort bleiben!« Warum verzerrte sich sein Gesicht dermaßen, als er ihr dies zurief? Die Adern traten an seiner Stirn hervor, blutrot glühten seine Wangen. Dies trübte ihre Freude. Wäre er doch nicht in Ordnung? Hatte er sich in der Gegenwart des Arztes mit all seinem Benehmen bloß verstellt? Und was sollte sein Befehl, sie müsse in ihrem Zimmer bleiben?
Sie verstand zwar nicht, gehorchte aber unwillkürlich. In ihrem Zimmer fand sie aber keine Ruhe. Die zuvor niemals wahrgenommenen Züge, die sie an ihrem Mann jetzt während anderthalb Stunden beobachtet hatte, die kriecherische Unterwürfigkeit als Gegensatz zur Panik im Wald erfüllten sie mit Sorge. Sosehr sie auch ihre Unruhe zu meistern suchte, die Erregung wuchs an, als rücke etwas Grauenhaftes immer näher. Instinktiv begann sie zu horchen – vergeblich. So vergingen einige Minuten, vielleicht eine Viertelstunde. Ihr Herz schlug lauter, heftiger.
Und da – wie eine Antwort auf ihr Warten – ertönte irgendwo ein langgezogenes, tierisches Geheul.
Sie lief den Korridor entlang. Nirgends eine Menschenseele. Weder im Hof noch im Vorzimmer. Doch die Tür zum Salon stand offen. Sie stürzte hinein. Eine unerwartete, bestürzende Szene empfing sie. Uzdy lag auf dem Boden, und der alte Maier, der neben ihm kniete, suchte hastig seinen Kragen aufzuknöpfen. Einer der Lehnstühle war umgestoßen worden. Etwas weiter entfernt auf dem Parkett erblickte sie einen längeren, rindenlosen Eichenstock. Wie war er vom Brennholzstapel hierhergelangt? Die alte Frau Uzdy stand in der Ecke hinter dem Kanapee. Ihr Gesicht wirkte blasser als die grau gestrichene Wand, an die sie sich lehnte. Es dauerte einen Augenblick, da sie dieses ganze Bild in sich aufnahm, doch nun rief ihr der alte Butler zu.
»Bitte einen Diener rufen … bitte schnell! Der Herr ist ohnmächtig …« 89
Entsetzliches musste geschehen sein, wenn der greise Maier ins Deutsche zurückfiel. Sie lief hinaus, rief nach einem Diener, dann eilte sie in den Anrichteraum, um ein Glas Wasser zu holen. Sie rannte damit zurück in den Salon, doch als sie ankam, hatte Maier Uzdys Oberkörper schon umklammert, während der Diener ihn an den Knien hielt. Sie hoben ihn auf und wandten sich dem Ausgang zu. »Ich habe Wasser da! Wir sollten ihm die Stirn benetzen!«, sagte Adrienne, doch Maier lehnte ab: »Nicht jetzt. Erst unten in seinem Zimmer.«
Sie trugen ihn weg. Uzdys Hände und Füße hingen ohnmächtig hinab wie die eines entzweigebrochenen Hampelmanns. Sie schafften ihn fort. Adrienne bemerkte erst jetzt, als die beiden an ihr vorbeizogen, dass an Uzdys Stirn Blut klebte.
»Ja, was ist geschehen? Um Himmels willen! Was ist da geschehen?«, wandte sie sich an die Schwiegermutter.
Die Greisin war bisher bewegungslos dagestanden. Die Lider hatte sie geschlossen. Auf den Ruf der Schwiegertochter öffneten sich ihre Augen langsam. Immer größer, fürchterlich groß wurden sie. Eine entsetzliche Vision mochte vor ihnen schweben. Dann richtete sie sich auf und löste sich von der Wand. In steifer Haltung wandte sie sich ab, und mit ihrem gewohnten, stampfenden Gang machte sie sich auf den Weg in ihr Zimmer. Sie öffnete die Tür und schloss sie lautlos hinter sich.
Adrienne sollte die Wahrheit erst später von Maier erfahren. Er war in der Vorhalle mit dem Reinigen von Silber beschäftigt, als Uzdy vom Hof her auf den Zehenspitzen herangeschlichen kam. In der Hand hielt er den Eichenknüppel. Maier schwante gleich Böses und wollte sich ihm in den Weg stellen, sein Herr war aber schneller. Die alte Gräfin befand sich im Salon. Vermutlich wartete sie auf die Rückkehr des Arztes. Sie saß hinter dem Tisch an ihrem gewohnten Platz. Ihr Sohn stürzte sich auf sie; mit dem Knüppel holte er zum Schlag aus. Zum Glück stand der Tisch zwischen ihnen, und Maier holte hier seinen Herrn ein. Mit einem ihm längst vertrauten Drehgriff fasste er ihn am Handgelenk und stellte ihm gleichzeitig ein Bein, um ihn zu Fall zu bringen. So hatte er es einst als Pfleger in der Irrenanstalt in der Nähe von Graz gelernt. Einen Tobsüchtigen allein zu
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