Versprechen eines Sommers
Nackt in den See springen.“ Sie schlüpfte aus ihren Flipflops und setzte sich hin.
„Natürlich. Eine von Kiogas geheimsten Traditionen.“
„Von der jeder gewusst hat.“ Sie zuckte vor den ungewollten Erinnerungen zurück. Ihre Gedanken schlingerten und rasten durch ihren Kopf. Würde sie ihn das tun lassen? War sie darauf vorbereitet? War er es?
„Lass mich dir von meinem Tag erzählen“, sagte sie. Es war nur fair, ihm von dem unsichtbaren Gepäck zu erzählen, das sie mit sich herumtrug. „Ich bin mit meinem Vater bei Jenny gewesen, um die beiden miteinander bekannt zu machen. Es war fürchterlich und seltsam und traurig. Heute Abend führt er sie ins Apple Tree Inn aus, damit sie sich kennenlernen können. Und das alles ist meine Schuld, weil ich die Büchse der Pandora geöffnet habe. Aber wie hätte ich es nicht tun können?“
„Hey. Nichts davon ist deine Schuld. Überhaupt gar nichts.“
Olivia verspürte den Drang, sich an ihn zu lehnen, um Schutz zu suchen. Jeder Atemzug schien ihre emotionalen Schmerzen zu vertiefen. „Es war so schwer“, sagte sie. „Versteh mich nicht falsch. Jenny war toll. Aber auch … vorsichtig. Sie hat uns nicht als ihre lange verschollene Familie umarmt. Sie hat uns aber auch nicht weggestoßen. Die ganze Zeit konnte ich nicht aufhören, daran zu denken, was wir alles verpasst haben. Die ganzen Dinge, die wir nie hatten. Mein ganzes Leben lang hatte ich eine Schwester. Eine große Schwester. Und ich habe es nicht gewusst. Ich frage mich, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn wir einander als Kinder schon gekannt hätten.“
Er legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Allein seine menschliche Wärme zu fühlen brachte sie an den Rand der Tränen. Er sagte nichts, weil es nichts zu sagen gab, wie sie annahm. Endlich stellte er eine Frage. „Was kann ich tun?“
Sie schluckte ein paarmal, weil sie ihrer Stimme kaum vertraute. „Vielleicht brauche ich überwältigenden Sex und eine Schulter, an der ich mich ausweinen kann.“
Sein Griff wurde fester, und sie konnte das Lachen in seinem Brustkorb aufsteigen hören. „Ich schätze, dann bist du an genau den Richtigen geraten.“
Olivia wusste nicht, ob sie das wirklich annehmen sollte, was er ihr anbot. Sie hatte einen tollen besten Freund – Freddy – und eine Cousine, die sie anbetete – Dare. Die beiden könnten die Schulter sein. Für den umwerfenden Sex bedurfte es aber tatsächlich eines Spezialisten.
Sie und Connor hatten es schon mal mit Sex probiert. Es war ein Desaster gewesen, dessen Ausmaße sie immer noch versuchte zu verstehen. Sie hatte gedacht, dass es sich um ein typisches Teenager-Szenario aus Zurückweisung und dadurch empfundener Erniedrigung gehandelt hatte. Aber sie hatte es nie wirklich hinter sich lassen können. Ganz im Gegenteil, sie hatte sich über diesen Moment definiert und ihm erlaubt, Entscheidungen zu beeinflussen, die sie Jahre später traf.
„Also, was sagst du, Lolly“, flüsterte er an ihrem Mund. Er küsste sie nicht, war aber nah genug, dass es sich so anfühlte.
Gott, sie war verknallt in ihn. Wieder einmal. Dabei hätte sie ihre Lektion doch vor langer Zeit gelernt haben sollen. Sie wollte ihn jedoch so sehr. Selbst das Wissen, dass es ein Fehler sein könnte, hielt sie nicht mehr auf.
Vielleicht würden sie es als Erwachsene besser machen. Denn weiß Gott, schlechter konnte es nicht werden.
Camp Kioga – Liederbuch
Zapfenstreich (Der Tag ist um)
Der Tag ist um, die Sonne fort,
Vom See, von den Bergen, vom Himmel;
Alles ist gut, schlaft recht fein, Gott ist nah.
30. KAPITEL
Sommer 1997
G lückliche, aber erschöpfte Camper wimmelten am Abholtag über die Wiese vor dem Haupthaus. Einige nahmen den Campbus zum Bahnhof. Andere wurden von erwartungsvollen Eltern in Geländewagen und SUVs abgeholt. Nach zehn Wochen wurde selbst das anstrengendste Kind vermisst. Die Schlafbaracken waren ein letztes Mal gefegt worden und die Kinder wuselten durcheinander, schleppten ihr Gepäck und nahmen ihre Sonnenbräune, die Mückenstiche und – wie es Lollys Großeltern in ihrer Ansprache beim Frühstück ausgedrückt hatten – unwiederbringliche Erinnerungen mit nach Hause.
Lolly sah Connor, der mit Julian sprach. Der kleine Junge hüpfte von einem Bein aufs andere. Er war immer noch das energiegeladenste Kind des gesamten Camps. Ihr Herz hüpfte, wie es das immer tat, wenn sie Connor sah oder nur an ihn dachte. Entgegen allen Erwartungen war diesen
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