Versprechen eines Sommers
funktioniert. Ich lass mich fallen, und du fängst mich auf, genauso wie ich es dir gezeigt habe.“
„Nicht …“
„Ich vertraue dir.“ Er ließ los. Es gab einen kleinen Moment der Schwerelosigkeit und einen noch kleineren Moment des freien Falls, dann setzten die Sicherungen ein und fingen ihn auf.
„Du bist verrückt“, schalt sie ihn.
„Nee. Ich genieße nur den Kick.“ Er kletterte wieder an seinen Ausgangspunkt hinauf und zeigte ihr dabei erneut, wo die einzelnen Haltepunkte waren.
„Was ist, wenn du nicht sehen kannst, welches dein nächster Schritt sein wird?“, fragte sie.
„Dann greift man sich irgendwas und hofft das Beste.“
Sie kletterten nur eine relativ kurze Strecke ohne Überhänge oder andere zu gefährliche Passagen. Daisy war ein wenig zittrig und schrie hier und da auf, aber ansonsten schlug sie sich gut. Er beobachtete sie, während sie kletterte. Sie ging langsam und vorsichtig vor, war aber stark und machte keine Fehler. Wenn sie doch mal falsch griff, bemerkte sie es sofort und korrigierte sich. Endlich hatten sie beide den Gipfel erreicht. Sie waren verschwitzt, aber glücklich. Daisy führte einen kleinen Freudentanz auf. „Ich fühle mich wie Frodo auf dem Gipfel von Mount Doom.“
Sie stießen mit ihren Wasserflaschen an. Dann holte sie eine Packung Zigaretten heraus. Er sah sie unter gerunzelten Augenbrauen an. „Die bringen dich eher um als das Klettern.“
Sie ignorierte ihn und legte die Zigaretten auf einen großen Stein. Dann ließ sie ihr Feuerzeug aufflammen und zündete sie an. Nach und nach legte sie kleine Äste nach, um sie am Brennen zu halten. Als der kleine Haufen qualmte und zu Asche verfiel, setzte sie sich auf ihre Fersen und sagte: „Das hab ich schon den ganzen Sommer über tun wollen.“
„Und warum hast du es nicht getan?“
Sie stand auf und zertrat die Asche mit ihrem Fuß. „Es wurde zu so einer Sache zwischen mir und meinem Dad. Ich habe von ihm erwartet, dass er ein Machtwort spricht, aber das hat er nie getan. Also dachte ich mir, wenn ich darauf warte, dass meine Eltern mir sagen, ich solle aufhören, können noch Jahre vergehen. Bis dahin bin ich hoffnungslos abhängig. Also kann ich genauso gut von alleine aufhören.“
„Guter Plan.“ Einem Impuls folgend lehnte er sich zu ihr und gab ihr einen kleinen, süßen Kuss auf den Mund. „Und das habe ich den ganzen Sommer über tun wollen.“
„Und warum hast du es nicht?“
„Ich war mir nicht sicher, ob du es auch wolltest.“ Sein Herz schlug wie verrückt. „Komm, jetzt üben wir das Herunterlassen.“ Er trat rückwärts an den Rand des Felsen, stieß sich ab und hüpfte in großen Sprüngen gekonnt den Berg hinunter, wobei er das Seil durch seine behandschuhten Hände gleiten ließ. Als er auf dem Boden angekommen war, beugte sie sich über den Rand und applaudierte ihm.
„Bist du bereit, es zu probieren, oder soll ich es dir noch einmal zeigen?“
„Hm. Ich weiß nicht. Was sagen deine Spinnensinne?“
„Dass du es fabelhaft meistern wirst.“
Etwas zögerlich trat sie an den Abgrund, überprüfte noch einmal ihr Geschirr und ließ sich dann langsam hinunter. Ihr Abstieg war nicht so fließend wie seiner, aber trotzdem fühlte es sich großartig an. Unten angekommen, riss sie jubelnd die Arme hoch. „Das war toll!“, rief sie, und das Echo ihrer Stimme wurde von den Felsen hundertfach zurückgeworfen.
„Du bist ein guter Lehrer“, sagte sie zu Julian. „Machst du das oft?“
„Du bist meine erste Schülerin.“
„Echt? Dann bist du ein Naturtalent. Was dir ganz gelegen kommt, wenn du dich für das ROTC-Stipendium bewirbst.“
Sie waren oft nachts lange aufgeblieben und hatten über die Pros und Kontras einer Bewerbung gesprochen. Inzwischen hatte Julian den Vorgang verstanden. Es war ungefähr zehn Mal so schwierig wie eine College-Bewerbung, weil auch die körperliche Fitness und der allgemeine Gesundheitszustand zählten.
„Ich werde mich nicht bewerben“, sagte er mürrisch angesichts des langen noch vor ihm liegenden Weges.
„Warum nicht?“
„Sie nehmen einem die Freiheit, überwachen jeden deiner Schritte. Mein Leben wäre da vollkommen reguliert. Worin unterscheidet sich das also davon, in den Jugendknast zu gehen?“
„Stimmt, so anders ist es nicht“, gab sie zu.
„Ich bin diesen Sommer hierhergekommen, um eben nicht eingesperrt zu werden. Warum sollte ich mich also freiwillig für vier Jahre melden?“ Er schüttelte den Kopf.
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