Verstand und Gefühl
Unverschämtheit von allem gesehen wurde; denn nachdem sie eine eingehende Prüfung hinsichtlich des Wertes und der Machart ihres Kleides, der Farbe ihrer Schuhe sowie ihrer Haartracht über sich hatte ergehen lassen, konnte sie fast sicher sein, daß Miss Steele ihr dann erklärte, sie sähe, auf ihr Wort, mächtig fesch aus, und sie würde ganz bestimmt sehr viele Eroberungen machen.
Mit einer solchen Ermutigung wurde sie bei dieser Gelegenheit zu der Kutsche ihres Bruders entlassen, in die sie und ihre Schwester fünf Minuten, nachdem sie vorgefahren war, bereits einsteigen konnten – eine Pünktlichkeit, die ihrer Schwägerin, die schon zu ihrer Bekannten vorausgefahren war, gar nicht paßte, da sie dort auf eine durch ihre Schwägerinnen verschuldete Verzögerung hoffte, die ihr selbst oder ihrem Kutscher dann Ungelegenheiten bereiten könnte.
Die Ereignisse des Abends waren nicht besonders bemerkenswert. Der Musikabend versammelte, wie andere solche Abende auch, sehr viele Leute, die wirklichen Gefallen an den Darbietungen hatten, und sehr viel mehr, die nicht den geringsten daran hatten; und die Spieler selbst waren, wie gewöhnlich, nach ihrer eigenen Einschätzung und der ihrer nächsten Angehörigen die besten Hausmusiker Englands.
Da Elinor weder musikalisch war noch vorgab, es zu sein, hatte sie keine Bedenken, ihren Blick von dem Flügel wegzuwenden, wann immer es ihr gefiel; und unbeeindruckt selbst von der Gegenwart einer Harfe und einem Cello richtete sie ihn nach Belieben auf andere Dinge im Raum. Bei einem dieser umherschweifenden Blicke bemerkte sie in einer Gruppe junger Männer gerade den Mann, der ihnen bei Gray’s eine Lektion über Zahnstocherkästchen gegeben hatte. Sie bemerkte, wie auch er bald darauf zu ihr hinsah und dann vertraulich mit ihrem Bruder sprach; und sie hatte gerade beschlossen, von dem letzteren seinen Namen herauszufinden, als beide auch schon auf sie zukamen und er ihr von Mr. Dashwood als Mr. Robert Ferrars vorgestellt wurde.
Er begrüßte sie mit ungezwungener Höflichkeit und machte eine gezierte Verbeugung, die ihr ebenso deutlich |272| versicherte, wie Worte es getan haben könnten, daß er gerade so ein Geck war, wie sie ihn von Lucy hatte nennen hören. Glücklich wäre es für sie gewesen, wenn ihre Liebe zu Edward weniger von seinen eigenen Vorzügen abhängig gewesen wäre als von denen seiner nächsten Angehörigen. Denn dann hätte diese Verbeugung seines Bruders dem, was mit der Übellaunigkeit seiner Mutter und seiner Schwester begonnen hatte, den letzten Stoß gegeben. Doch während sie sich darüber wunderte, wie verschieden die beiden jungen Männer waren, konnte sie nicht finden, daß die Hohlheit und Selbstgefälligkeit des einen sie die Bescheidenheit und den Wert des anderen weniger schätzen ließen. Warum sie so verschieden waren, erklärte ihr Robert im Verlaufe ihrer viertelstündigen Unterhaltung selbst; denn als er über seinen Bruder sprach und über dessen äußerst linkisches Wesen klagte, das ihn, wie er tatsächlich glaubte, davon abhielt, in der richtigen Gesellschaft zu verkehren, schrieb er dies offen und großmütig viel weniger angeborenen Unzulänglichkeiten zu als vielmehr dem unglücklichen Umstand seiner privaten Ausbildung – während er selbst, obgleich wahrscheinlich ohne seinem Bruder von Natur aus besonders oder wesentlich überlegen zu sein, lediglich durch den Vorteil einer Privatschule ebenso imstande sei, mit aller Welt zu verkehren, wie jeder andere Mann auch.
»Auf mein Wort«, fügte er hinzu, »ich glaube, weiter ist es nichts; und wie oft sage ich zu meiner Mutter, wenn sie darüber bekümmert ist: ›Meine liebe Mama, du mußt das nicht so schwernehmen. Das Übel ist nicht wiedergutzumachen, und es ist allein deine Schuld. Warum hast du dich gegen deine eigene Einsicht von meinem Onkel, Sir Robert, überreden lassen, Edward in der kritischsten Zeit seines Lebens Privatunterricht geben zu lassen? Hättest du ihn nur nach Westminster geschickt wie mich selbst, statt zu Mr. Pratt, hätte das alles verhindert werden können.‹ So erkläre ich die Sache immer, und meine Mutter ist vollkommen überzeugt von ihrem Fehler.«
Elinor wollte dem nicht widersprechen, denn was immer |273| sie sonst von den Vorteilen einer Privatschule halten mochte, so konnte sie jedenfalls nicht gerade mit Befriedigung an Edwards Aufenthalt in Mr. Pratts Familie denken.
»Sie wohnen doch wohl in Devonshire«, war seine
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