Versteckt
kam mir sehr, sehr verwundbar vor.
Der Gang war ziemlich kurz. Casey hatte recht – man konnte das Meer tatsächlich riechen. Man konnte es sogar hören – das ferne, sanfte Grollen des Ebbstroms, den Klang der Freiheit.
Nach dem Anblick dieser Skelette konnte ich nicht anders, als darüber nachzudenken, ob wir doch umdrehen und zurückgehen sollten, Ben hin oder her. Doch in den Gängen würden wir uns schlecht verteidigen können, und wir kannten den Weg nicht genau. Man stelle sich vor, wir würden eine Abzweigung verpassen – die Panik, die Angst, dass sie vor oder hinter uns sein könnten. Und wir hätten keine Möglichkeit, uns zu verstecken, und nur eine Lampe. Sie kannten diese Gänge – wir nicht.
Nein, der einzige Ausweg war ganz in der Nähe. Er lag vor uns. An ihnen vorbei. Durch sie hindurch, wenn es sein musste.
Wir bewegten uns auf das Meeresrauschen zu. Das Geräusch war verführerisch, gefährlich. Es spornte uns an, gab uns Hoffnung. Und übertönte andere Geräusche.
Blende es aus, ermahnte ich mich.
Vor uns fiel ein dünner Strahl Mondlicht in den Gang. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Schlagartig kam mir eine Idee, die uns unter Umständen einen Vorteil verschaffen würde. Ich zog Casey zu mir heran.
»Mach das Licht aus«, flüsterte ich.
Sie verstand sofort. Wir standen schweigend im Dunkeln und warteten, bis sich unsere Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten. Der Hund und Mary Crouch waren irgendwo vor uns. Im Mondlicht. Wenn wir jetzt angriffen, würden wir sie einen winzigen Augenblick lang besser sehen als sie uns. Das war unsere Chance.
»Du übernimmst Mary«, sagte ich.
Sie drehte sich zu mir und nickte. Wir umrundeten die Biegung.
Es war ein kleiner Raum mit niedriger Decke, etwa drei Meter im Durchmesser. Früher war die Flut hier hereingeschwappt, der Boden war mit vom Wasser glatt geschliffenen Steinen bedeckt. Direkt vor uns tat sich eine ein mal zwei Meter große Öffnung auf. Drei Pritschen waren im rechten Winkel dazu aufgestellt. Ich malte mir aus, wie sie in einer warmen Sommernacht wie dieser hier herumlagen und der Hund die feine Nase zum Meer richtete. Hinter der Öffnung konnte man die blauschwarze Nacht und die Sterne erkennen, still und friedlich.
Vor uns stand der Hund. Ein Albtraum.
Er fraß.
Ich konnte nur einen kurzen Blick auf Steven werfen. Mehr ertrug ich nicht und erlaubte ich mir nicht. Ein solcher Anblick kann einen lähmen und in den Wahnsinn treiben. Der Hund wühlte konzentriert in Blut und Knochen, seine Sinne waren abgelenkt.
Er stand mit dem Rücken zu uns und blickte in Richtung der Sterne.
Ich hörte Knochen knacken. Die Schnauze hob sich, und ich sah das Profil des Hundes, den Schaum und den Geifer, den irren Blick eines halb blinden Auges. Dann wandte er sich wieder seiner Beute zu.
Mary war auch hier.
Eine alte, dürre Frau in Lumpen. Ihr dünner, drahtiger Rücken war vornübergebeugt. Die Knochen ihrer Wirbelsäule stachen hervor wie Knollen auf einem Baumstamm. Ihr Haar glich einer scheußlichen verfilzten Perücke in schmutzigem Grau und Weiß. Die langen Muskeln ihrer Arme spannten sich wie Kabel.
Ich hörte, wie sie dem Hund in leisem Singsang zuredete. Sie kniete neben ihm, streichelte seinen gewaltigen schwarzen Leib vom Genick bis zu den Hinterbeinen und stieß hohe, leise Laute des Vergnügens und der Heiterkeit hervor, die vom sanften Wind durch den Höhleneingang getragen wurden, während der Hund an der leeren Hülle meines Freundes riss und zerrte und sie weiter verstümmelte.
Ihre Hand glitt wie eine Klaue über seinen Körper. Zärtlich. Sie sang ihm ein wortloses Lied, spornte ihn an wie eine Mutter ein Baby. Wie eine Frau ihren Liebhaber.
Mein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Mir drehte sich der Magen um, und ich wandte den Blick ab.
Beobachtete den Hund.
Und begriff, dass ich ihn von meiner Position aus nicht richtig attackieren konnte, von hier aus waren seine Hinterbeine und der Hinterleib das einzige Ziel. So konnte ich ihn nicht ernsthaft verletzen, ich musste ihm die Mistgabel schon in die Brust oder die Schnauze stoßen. Einen Moment lang überkam mich frustrierte Panik. Früher oder später würden sie uns bemerken, dann musste ich angreifen. Und der Hund war schnell. Schnell und tödlich.
Mühsam kämpfte ich darum, nicht die Beherrschung zu verlieren.
Casey neben mir versteifte sich. Die Angst kehrte zu ihr zurück, ich strömte sie aus und infizierte sie damit. Es blieben nur noch
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