Versteckt
meinen Armen zu halten. Das tat ich oft. Doch wenn sie nach zwei oder drei Nächten wieder vom Speed runterkam, war es jedes Mal eine emotionale Katastrophe. Manchmal versuchten wir, diesen Absturz mit Downern oder Gras zu mildern – vergeblich. Die Trauer spülte durch sie hindurch wie eine stille dunkle Flutwelle. Ich erinnere mich daran, wie ich sie so lange festhielt, bis ihr Körper sich entspannte und das Zittern aufhörte und sie endlich einschlief. Es heißt, dass man sich am besten an das erinnert, was man einmal geschmeckt hat. Ich glaube, am deutlichsten erinnere ich mich an den Geschmack ihrer Tränen.
5. »Was willst du, Case? Was ist dir wichtig im Leben?«
Ich tat etwas Schreckliches.
Ich schenkte ihr ein Kätzchen.
Damals war ich wohl auch schon etwas neben der Spur, denn eigentlich hätte ich es besser wissen sollen. Sie war schon viel zu dünn, und ihre Ausflüge in die Bostoner Unterwelt dauerten länger und länger. Jeder neue Absturz war schlimmer als der vorherige. Vielleicht tut es ihr gut, wenn sie ein bisschen Verantwortung übernimmt, dachte ich mir. Wenn sie einen Grund zu leben hat und mal etwas Normales tut, wenn sie irgendetwas hat, dem sie ihre Liebe und Zuwendung schenken kann. Denn Liebe trug sie genug in sich.
Sie liebte Katzen, also ging ich ins Tierheim und danach auf den Markt in der Charles Street, wo ich Katzenfutter, einen Katzenkorb und Streu kaufte. Dann warteten das Kätzchen – ein kleines schwarz-weißes Ding – und ich in meiner Wohnung, dass sie zurückkam und sich meldete. Ich streichelte den Kater, kraulte ihn und schärfte ihm seine Pflichten ein. Laut. Und dabei weinte ich Tränen der Hoffnung und der Freude – was aber, im Nachhinein betrachtet, wohl eher Tränen der Verzweiflung waren … er sollte genauso schnurren wie jetzt. Er sollte jede Nacht bei ihr im Bett liegen. Er sollte nett und brav sein und sie wie verrückt liebhaben.
Als sie anrief, steckte ich das Kätzchen in die Manteltasche und ging nach unten. Als ich ihr Gesicht sah, wusste ich, dass ich das Richtige getan hatte. Sie verliebte sich sofort in den kleinen Kater. Konnte nicht glauben, dass ich so etwas für sie getan hatte. Wir bastelten Spielzeug für ihn und spielten die ganze Nacht mit ihm. Es gibt nichts, was so unwiderstehlich niedlich ist wie eine Katze, die in einer fremden Umgebung herumtollt, und es war eine wunderschöne Nacht.
Wie sollen wir ihn nennen?, fragte sie mich. Sie war ein großer Fan von Kenneth Patchen, ganz besonders von seinem Buch The Journal of Albion Moonlight . Ein lyrisches Buch, in dem es um Verlust, Angst und Leid geht.
Wäre ich nicht so glücklich gewesen, hätte es mir da schon wie Schuppen von den Augen fallen müssen.
Albion, sagte sie. Wir nennen ihn Albion.
Es dauerte nicht einmal einen Monat, bis Albion verschwunden war. Jen war am Boden zerstört. Ich hatte sie noch nie so traurig gesehen.
Sie hatte das Kätzchen eines Abends mitgenommen, um es ihren Freunden zu zeigen.
Und sie wusste nicht mehr, wo das gewesen war.
6. Man konnte kein gutes Gefühl dabei haben. Auf keinen Fall …
»Komm mit. Komm mit und sieh zu«, sagte sie. »Dann hast du vielleicht nicht mehr so eine Scheißangst.«
Oder so ähnlich.
Sie war im Badezimmer. Doch diesmal stand die Tür weit offen.
Wir hatten uns gestritten. Ich flehte sie an, es bleiben zu lassen, Hilfe zu suchen. Zum hundertsten Mal. Ich will aber nicht, gottverdammt. Ich setze mir jetzt einen Schuss und zieh los. Nein, wirst du nicht. Oh doch.
Dieses Mal war ich wütend genug für ein Schön, dann mach doch, was du willst . Also stand ich in der Tür und beobachtete, wie sie sich den Arm abband. Mit grimmiger Entschlossenheit nacheinander die Pipette, den Löffel, ein Streichholz und schließlich die Nadel benutzte. Sie war so schrecklich pragmatisch dabei, als wollte sie mir sagen: Das ist das richtige Leben, du Arschloch, meine Welt – die Welt, vor der du die Augen verschließt, weil du so eine Scheißangst hast. Sieh nur gut zu. Sieh zu, wie ich in Ekstase gerate.
Und ich sah zu.
Wenn ich hier des Öfteren wiederhole, dass ich mich nicht genau an alles erinnern kann , hat das einen Grund: Man stelle sich vor, welche Veränderungen ich durchmachte, in welchen Zeiten ich lebte. Innerhalb eines Jahres verwandelte ich mich vom Jahrgangssprecher in Anzug und Krawatte zum langhaarigen Hippie in Batikklamotten. Statt Elvis hörte ich jetzt mit Begeisterung die Beatles, die Byrds und die Stones. Ich
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