Versteckt
auf, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen.
In seinem Blick lag keine Idiotie. Nicht die Spur. Er musterte mich. Sein Mund war eine dünne Linie. Rafferty hatte sich geirrt. Wir alle hatten uns geirrt. Vor mir stand kein Schwachsinniger. Dieser Mann war viel gefährlicher.
Er packte den Axtgriff so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Ich nahm einen Stein in jede Hand, geradezu lächerliche Waffen, um es mit ihm aufzunehmen. Ich war am Ende meiner Kräfte und wartete ab.
Er sah Casey an.
Dann den Hund.
Dann Mary. Er starrte sie eine lange Zeit an.
Dann wandte er sich wieder mir zu.
Wie gesagt – zu diesem Zeitpunkt war ich nicht ganz bei Sinnen.
Ich weiß nicht, ob es möglich ist, dass sich das eigene Gesicht im Antlitz des Gegenübers widerspiegelt. Ich war wie betäubt, wie im Drogenrausch. Doch das sah ich damals – mein eigenes Gesicht. Ich sah mich in ihm, denselben Verlust, dieselbe Angst, dieselbe Frustration und Wut. Und schließlich dieselbe stumme, leere Resignation.
Mir drehte sich der Magen um, mein Kopf schwirrte. Ich schloss für einen Moment die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, war er verschwunden.
23
Sie fanden uns am Kiesstrand.
Zuerst hielten sie uns beide für tot, weil ich kaum reagierte. Wir lagen nahe beieinander, und ich hatte wohl ihre Arme um mich geschlungen. Ich kann mich nicht mehr an allzu viel erinnern, und das ist auch gut so.
Ich frage mich heute noch, wie ich sie dort hinuntergeschafft habe.
Getragen habe ich sie sicher nicht, nicht mit meinem verwundeten Bein. Also habe ich sie wohl hinter mir hergeschleift, nur raus aus dieser Höhle. Aber auch daran kann ich mich nicht erinnern.
Keine Ahnung, wie lange wir dort lagen.
Sie hatten sich in zwei Suchtrupps aufgeteilt. Der eine stieg in die Höhle, der andere suchte die Strände ab. Wie man mir später erzählte, entdeckten uns die beiden Trupps fast gleichzeitig. Kim war bei der zweiten Gruppe, weil sie sie nicht mit in den Tunnel nehmen wollten.
Als sie mich sah, hatte mich ein Polizist bereits in eine Decke gewickelt und eine zweite Decke über Casey gelegt. Zum Glück blieb Kim dieser Anblick erspart. Noch glücklicher bin ich darüber, dass sie Steven nicht sehen musste. Sie hatte den Polizisten nur den Eingang gezeigt, mehr nicht. Sie hatten sie darauf hingewiesen, dass es in dem Tunnel gefährlich sein könnte.
Ein paar Tage später hätten wir fast darüber gelacht.
Sie verabreichten mir ein Beruhigungsmittel und fuhren mich ins Krankenhaus, wo mein Bein und die zahlreichen Schnitte und Blutergüsse behandelt wurden.
Meine Eltern besuchten mich und hatten genug Taktgefühl, um nicht zu erwähnen, wie dumm wir alle gewesen waren. Meine Mutter dankte Gott. Sie war sehr aufgewühlt und schien verblüfft, dass ich überhaupt überlebt hatte. Mein Vater begegnete mir mit einer herzlichen Ernsthaftigkeit, als wäre er wieder im Zweiten Weltkrieg und ich sein Kamerad, der unglücklicherweise eine Schussverletzung davongetragen hatte, jedoch mit dem Leben davonkommen würde. Seltsamerweise wusste ich das zu schätzen.
Rafferty kam auch vorbei.
Er wusste nicht so recht, was er tun sollte. Er sagte nur, wie leid ihm alles tue, und schüttelte staunend den Kopf. Ich glaube, er fühlte sich ein wenig verantwortlich für die ganze Geschichte. Als hätte sie an jenem Tag begonnen, an dem wir gemeinsam die Mülltonnen durchwühlten. Ich versuchte, ihm das auszureden. Obwohl es in gewisser Weise der Wahrheit entsprach.
Rafferty erzählte mir, dass man von Ben Crouch nur ein paar Fußspuren entdeckt hatte, die zum Strand hinunterführten und dann im dunklen feuchten Sand am Ufer endeten. War er ertrunken? Alle schienen das zu glauben. Ich hoffte nicht. Wirklich, ich hoffte, er hatte überlebt.
Und hoffe es immer noch.
Kim war ständig bei mir. »Wenn es dir besser geht«, sagte sie, »musst du mir alles erzählen. Nicht jetzt. Irgendwann.«
Danach erwähnte sie die Ereignisse nie wieder. Sie saß nur stundenlang da, hielt meine Hand und beobachtete mich, wie ich ins Leere starrte, in blaue Augen und in die Sonne, und sie ließ mich in Ruhe und wollte auch nicht reden. Dafür war ich ihr sehr dankbar.
Nachdem ich entlassen wurde, traf ich sie so häufig, dass meine Mutter mich irgendwann fragte, ob wir uns wohl nähergekommen seien. So war es auch, nur anders, als sie es vermutete. Wir wurden Freunde, dicke Freunde sogar – eine Freundschaft, die wir bis heute durch Briefe und Telefonate
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