Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
achtbaren Gründen.
Manchmal hat man das Gefühl, dass auch Sie sich nur schwer beherrschen können, Israel nicht zu kritisieren.
Ich beherrsche mich. Denn ich weiß, dass die Erinnerung an Auschwitz und an den Versuch, die europäischen Juden auszurotten, noch weit über Ihre Generation hinaus im Bewusstsein der Nachbarn Deutschlands und der anderen Völker in der Welt aufrechterhalten bleiben wird – wie hoffentlich auch im Bewusstsein der Deutschen. Jedenfalls ist die Erinnerung heute im Bewusstsein der Deutschen so vorherrschend, dass über die gegenseitigen Schandtaten der zwei Parteien im Nahen Osten, wenn es denn nur zwei sind, in Deutschland bloß berichtet, diese aber nicht problematisiert werden.
Vielleicht gehört zu dieser Zurückhaltung auch, dass man sich nicht dem Vorwurf aussetzen möchte, am deutschen Ratschlag solle die Welt genesen.
Das wäre ja ein durchaus ehrenhaftes Motiv!
Glauben Sie, dass jemand mit der Meinung von Sarrazin in der SPD bleiben kann?
Ja. Das wird sich wohl auch so herausstellen. Manches von dem, was er geschrieben oder gesagt hat, ist vielleicht gar nicht seine endgültige Meinung: Wenn ich am laufenden Band Interviews geben müsste, würden mir auch Worte entschlüpfen, die ich hinterher beim Wiederlesen streiche. Die SPD hat doch die seltsamsten Personen jahrelang geduldet.
Aber in Ihre Zeit fällt zum Beispiel der Rauswurf des ehemaligen Juso-Chefs Klaus Uwe Benneter, der später dann eine triumphale Rückkehr in die SPD feierte und sogar ihr Generalsekretär wurde.
Er ist inzwischen erwachsen und vernünftig geworden. Damals war er das nicht.
Er hatte zum Beispiel von sich gegeben, die DKP sei bloß ein Klassengegner, die CDU aber ein Klassenfeind.
Aber allein deswegen muss ich ihn doch nicht aus der Partei ausschließen. Wenn ich jemand ausschließen will, dann gefälligst nach dem geordneten Verfahren, wie es in der Satzung steht. Ich habe mit Interesse gelesen, was Klaus von Dohnanyi über Sarrazin und die SPD sagt: »Die SPD neigt dazu, Widerspruch, wenn er streitig geführt wird, schnell als mangelndes Verständnis für soziale Fragen abzutun, anstatt die Menschen, die abweichende Auffassungen haben, sorgfältig anzuhören.« Das kann ich unterschreiben. Das heißt ja nicht, dass damit vorweggenommen ist, wie ein Verfahren ausgeht. Das ist eine andere Frage.
Hätten Sie auch Wolfgang Clement gern in der SPD behalten?
Ich finde, dass mindestens 49 Prozent der Schuld am Zerwürfnis zwischen SPD und Clement bei meiner Partei liegen.
Wenn ein ausgeschlossener Herr Sarrazin zusammen mit dem in der Partei nicht mehr gemochten und hinausgedrängten Wolfgang Clement oder einem in der CDU kaltgestellten Friedrich Merz eine eigene Partei gründen würde, glauben Sie, dass die Anklang finden würde?
Das ist mir zu spekulativ, weil die drei Personen, die Sie da genannt haben, in Wirklichkeit nur relativ kleine gemeinsame Nenner haben.
Aber sie bündeln Unzufriedenheit in der Bevölkerung.
Das ist eine wichtige Feststellung. Was sie öffentlich sagen, bringt die Unzufriedenheit des Volkes zum Ausdruck, das stimmt. Und die Unzufriedenheit des Volkes ist eine Unzufriedenheit mit der ganzen politischen Klasse. Diese Unzufriedenheit ist wahrscheinlich nicht ungerechtfertigt. Übrigens ist das kein deutsches Phänomen; denn zum Beispiel in Frankreich oder in Italien sieht es ähnlich aus.
Sie plädieren für Fairness und Gelassenheit im Umgang mit Abweichlern?
Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund: Gelassenheit, Anstand – und Toleranz. Die SPD hat doch sogar gegenüber Lafontaine jahrelang Toleranz geübt.
16. September 2010
»Die Frauen haben meistens ein etwas größeres Herz«
Fragen von Lesern
Herbst 2010: Das Zeit magazin feiert seinen 40. Geburtstag und lädt die Leser ein, Fragen an Helmut Schmidt einzureichen. Ende Oktober trifft Giovanni di Lorenzo den Altkanzler, um ihm ausgewählte Zuschriften vorzutragen. Das Gespräch, eigentlich als unterhaltsames Jubiläums-Kaleidoskop geplant, wird vom Tod von Loki Schmidt überschattet, die am 21. Oktober im Alter von 91 Jahren gestorben ist.
Lieber Herr Schmidt, ich sitze hier mit einem Fragenkatalog, der vor dem Tod Ihrer Frau zusammengestellt worden ist. Finden Sie es merkwürdig, wenn ich Sie jetzt damit konfrontiere?
Ich finde das keineswegs ungehörig. Das Leben geht weiter, und die Zeitung muss auch weitergehen.
Sie wissen, dass die ganze Republik sich Sorgen um Sie macht.
Ja, aber das ist wohl
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