Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
Unterschichtangehörigen, besonders aus der Gruppe der Migranten?
Das sehe ich im Augenblick nicht. Aber ich muss Ihnen bekennen, dass ich schon in den frühen siebziger Jahren eine Bremsung der Einwanderung aus allzu fremden Kulturen als notwendig erkannt und später gefördert habe. Als ich das Amt des Regierungschefs antrat, hatten wir 3,5 Millionen ausländische Arbeitnehmer hier; als ich abgab, waren es immer noch 3,5 Millionen. Jetzt sind wir bei knapp sieben Millionen Ausländern.
Gebremst haben Sie aber nicht aus genetischen Gründen.
Richtig. Das hat doch auch mit Erbteil und Genetik nichts zu tun. Wenn Sie zum Beispiel jemanden aus einer westeuropäischen Kultur, aus Spanien oder Portugal, nach Hamburg-Eimsbüttel verpflanzen und seine Kinder gehen in Eimsbüttel zur Schule, dann geht das in aller Regel ganz ordentlich und gut. Mit Menschen aus Polen geht es besonders gut. Wenn Sie aber jemanden aus Kirgisistan oder Afghanistan hierher verpflanzen, ohne dass seine Kinder ein bisschen Deutsch verstehen, dann haben Sie spätestens in der Schule Probleme.
Wir haben seit Kurzem eine junge Kollegin, die Ihnen in der Politikkonferenz am Freitag oft gegenübersitzt. Deren Eltern kamen vor fast 40 Jahren aus der Türkei nach Deutschland, sie waren Fabrikarbeiter, die Mutter konnte so wenig Deutsch, dass sie an der Fleischtheke gackerte, um zu erklären, dass sie Hühnerfleisch haben wollte. Aber die Tochter ist ZEIT -Redakteurin geworden.
Ich sage doch nicht, dass es schiefgehen muss; ganz im Gegenteil. Es gibt sehr viele Fälle, in denen es gelingt. Aber es gibt eben auch viele Fälle, in denen es nicht gelingt. Deswegen habe ich zum Beispiel darauf hingewirkt, dass die Anwerbung von sogenannten Gastarbeitern gestoppt und die Rückkehrmöglichkeiten ausgeweitet wurden. Sie waren ja angeworben worden unter der Vorstellung, dass sie Gast -Arbeiter seien; der Gast würde eines Tages wieder nach Hause gehen. Das wollten aber viele gar nicht.
Warum hat diese Möglichkeit offenbar niemand gesehen, nämlich dass sie bleiben würden?
Es sind ja nicht alle Spanier geblieben, auch nicht alle Italiener, nicht alle Portugiesen, sondern es sind meistens Menschen geblieben, deren Zuhause ökonomisch und sozial viel schlechter geordnet war als hier in Deutschland.
Muslime aus der Türkei?
Zum Beispiel, aber nicht nur aus der Türkei, sondern auch aus Ländern im Nahen Osten, zum Beispiel aus dem Libanon. Von denen, die von dort kamen, sind viele gern hiergeblieben. Und es war vorherzusehen, dass ihre Integration schwierig sein würde. In Wirklichkeit ist eines der zugrunde liegenden Probleme – und es ist richtig, dass darüber jetzt öffentlich geredet wird – der Umstand, dass es uns Deutschen nicht gelungen ist, alle der sieben Millionen Zugewanderten zu integrieren. Es ist uns deswegen nicht gelungen, weil wir uns nicht ausreichend angestrengt und die richtigen Schritte dafür getan haben. Wir haben einen großen Teil von ihnen wirklich integriert, einen erheblichen Teil leider gar nicht. Es ist aber nicht so sehr die Schuld dieser Migranten, wie man sie heute nennt. Die Hauptschuld liegt bei uns Deutschen. Und sie liegt auch darin, dass wir darüber nicht geredet haben. Man kann über Sarrazin sagen, was man will, er hat einen Punkt erwischt, der bisher quasi tabu gewesen ist.
Welche Tabus gibt es für Sie noch in Deutschland?
Es gibt eine relativ schmale öffentliche Debatte über die Zukunft der Bundeswehr: welche Aufgaben eigentlich die Bundeswehr haben soll, welche Aufgaben im Interesse des deutschen Volkes bestehen, gegen wen die Bundeswehr uns verteidigen soll, was die sogenannte Nato soll. Solange ich nicht weiß, was diese militärisch-strategische Organisation Nato soll, solange kann ich auch nicht wissen, was die Bundeswehr machen soll.
Diese Diskussion halten Sie nicht für einfach nur vernachlässigt, sondern für tabuisiert?
Beides. Es gibt noch ein anderes Thema, das tabuisiert wird. Das ist der Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn.
Sie haben das Gefühl, dass man Israel nicht kritisieren darf?
Das ist ein weitverbreitetes Gefühl, übrigens ein moralisch durchaus achtbares Gefühl. Eine Tabuisierung ist nicht notwendigerweise moralisch verwerflich. Sie ist nur intellektuell nicht redlich.
Aber wie kommen Sie zu so einem Eindruck? Israel wird doch allenthalben kritisiert.
Nein, es wird vielmehr in der ausländischen Presse kritisiert, kaum hier in Deutschland; und aus
Weitere Kostenlose Bücher