Versuch über den stillen Ort (AT)
Spiel geworden, unseres. Er war nicht mehr mein Feind. Wir hatten, seit der Episode im Waschraum, ein gemeinsames kleines Geheimnis, und ich bin sicher, würden wir einander heute, nach fast einem halben Jahrhundert, begegnen, wir kämen auf der Stelle, erstmalig, ins Gespräch, ins Erzählen – nicht über das Studium und die Zeiten, sondern über die Augenblicke, die unvorherzusehenden, überraschenden, miteinander an jenem Stillen Ort.
Das andere Mal, das hier zählt, bin ich zum Haarewaschen in den Stillen Ort der Fakultät, so steht es mir jedenfalls im Gedächtnis, noch später am Abend gegangen. Es war schon tiefe Nacht, und ich im Glauben, es sei niemand mehr sonst in dem Gebäude: offen ins Freie nur der mehr oder weniger geheime bewährte Ausschlupf. Beim Aufstoßen der Tür zu den Wasch- und Toilettenräumen waren dort die überhellen Lichter angeknipst – oder damals noch »aufgedreht«? –, und an meinem gewohnten Waschbecken hatte jemand den Kopf in das Wasser gesteckt und wusch sich seinerseits die Haare. Bei meinem Eintritt schielte er mich von unten herauf an und grüßte, Unbekannter, der er war, freundlich, so wie wenn nichts wäre.
Den Mann kannte ich nicht; er war mir nie begegnet, nicht in der Universität, nicht in dem Warenhaus, wo ich vor den Festen manchmal in der Versandabteilung mitarbeitete, noch sonstwo. Und doch war der Fremde mir gar nicht fremd, oder fremd auf eine Weise, welche fast wieder Vertrautheit ausstrahlte. Nein, nicht Vertrautheit, vielmehr eine Art Schrecken. Obwohl der Mann sich zur Kopfwäsche das Hemd ausgezogen hatte, was dort nie meine Sache gewesen war, und zudem vom Alter mein Vater oder sonstwer hätte sein können, sah ich, und zwar gleich auf den ersten Blick, mich selber am Becken stehen. Ich war in der Waschzelle auf meinen Doppelgänger gestoßen, welchen ich seit der frühen Kindheit irgendwo hinter den Horizontengewußt hatte und der mir eines Tages über den Weg laufen würde, oder ich ihm.
Unerwartet, und in der Vorstellung schon ziemlich verblaßt, ließ er sich sehen mitten in der Nacht, in einem grellen Licht, vorgebeugt, lange nasse Haarsträhnen überm Gesicht, mit abgestreiften Hosenträgern, die ihm in die Kniekehlen baumelten. Und wie ich sonst hatte er zum Abtrocknen ein Handtuch dabei, ein großkariertes (anders als meines).
Mir nichts, dir nichts habe auch ich mit der Haarwäsche begonnen, zwei, drei Becken von ihm entfernt. So wortlos wie selbstverständlich machten wir, einer neben dem andern, unsere Toilette, er sich dann rasierend, mit Pinsel und Schaum, ich, beim eigens langwierigen Ribbeln und Rubbeln, meinen Doppelgänger von der Seite betrachtend, nicht verstohlen, sondern offen, zugleich nachdenklich und versunken, weiterhin soselbstverständlich, wie mir das noch nie beim Anschauen eines anderen Menschen, höchstens vielleicht eines Schläfers, eines Neugeborenen oder eines Toten, zugestoßen war. Der dort war ich also. Und so wie er würde ich einmal sein?
Und wer war ich? Gar nicht so einzelgängerisch und außenseiterisch, wie ich mich immer wieder geglaubt hatte. Ein bißchen sonderbar, ja, aber es gab Sonderbarere. Und wer war ich noch? Mitglied einer Expedition, oder, nein, einer, der für sich allein auf Expedition gewesen und gerade von der, nach schön mühseligem Sichdurchschlagen, zum Sichauffrischen in die Zivilisation hier jetzt zurückgekehrt war, vorläufig, vor der bevorstehenden nächsten Ein-Mann-Unternehmung. Und wer noch? Auf den ersten Blick offenbar jemand Gestörter, welcher auf den zweiten Blick schon ums Kennen normaler und, wenn’s drauf ankam, der einzig Normale unter tausendwurde, während die, auf den ersten Blick, neunhundertneunundneunzig anderen sich zuletzt als durch und durch verrückt zeigten.
Und wer war ich noch? (Als könnte ich über mich angesichts meines Doppelgängers auf einmal nicht genug erfahren – von mir nicht genug bekommen.) Laßt mich noch jemand sein, noch jemanden spielen, einen Pionier, einen Deserteur, einen Fußballschiedsrichter oder wenigstens den Linienrichter.
Und wie war ich, in Anbetracht meines Doppelgängers dort in dem weißen Neonlicht der Toilette? – Nicht besonders. Gar nicht so übel. Vielleicht nicht so ganz mit dem gewissen Etwas, aber auch nicht ganz ohne. Von einem Weltstar weit entfernt, aber wenn ein Trottel, so doch einer aus dem Dorf, und nicht ein Provinz- oder Stadttrottel. Und wie war ich noch? Und wie noch? Und wie noch? – Na, so was.Ja, da
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