Versuch über den stillen Ort (AT)
Derartiges, nicht durch Gelesenes, sondern durch die pure Erinnerung daran, sogar in der Mensa, welche, überbevölkert bis in die Abendstunden hinein, oftder mir einzig zugängliche Aufenthaltsort war.
Eines Abends erschien dort, weit weg von mir in meiner Ecke, im Fernseher, am Ende der Nachrichten, von denen bei dem ständigen Lärm und Getöse im Saal nichts oder kaum etwas zu hören war, gar seltsam auf dem Bildschirm, überaus fremd und nobel, das Gesicht William Faulkners, und ich weiß nicht, warum mir in meinem Sitzwinkel auf der Stelle klar war, daß der Schriftsteller, mir, seinem Leser, alle die Jahre eine Art Vater, an dem heutigen Tag gestorben war. Eine gewaltige, eine schmerzhaft-sanfte Stille breitete sich in mir und um mich herum aus, und diese begleitete mich auch, als ich dann – es war wohl im Juli 1962? – nachts mit dem Fahrrad zu meiner Unterkunft am Stadtrand fuhr, eine Stille, welche sich ausdehnte über die ganze Stadt.
Die stillen Orte kraft des Lesens (womit, selbstverständlich oder auch nicht, kaum das sogenannte Lesen am Stillen Ort gemeint ist): fast eine Binsenweisheit. Merkwürdig dagegen wieder, und vielleicht am allermerkwürdigsten, daß ein stiller Ort, jenseits von Buch und Kindheitsbehausungen, sogar aus bloßen Körperwendungen sich umreißen ließ, ungeplant wiederum, unbeabsichtigt. Das konnte auch ein Innehalten schaffen, ein Umkehren, ein Rückwärtsgehen, ein bloßes Atemanhalten. Am verläßlichsten, oder kommt mir das nur jetzt, im Aufschreiben wieder, so in den Sinn?, war jene Bewegung, die ich mir damals abgeschaut habe aus der Lektüre von Thomas Wolfes »Schau heimwärts, Engel!«, wo Ben, der ältere und schon jung altersweise Bruder des Helden, sooft er Gerede, Streit, Unsinn, Krieg usw. der Familie oder sonstwessen wieder einmal über hat, den Kopf über die Schulter zurück in einen leeren Winkel des Hauses oder sonstwohin wendet undzu seinem »Engel« dort sagt: »Nun hör dir das an!« Noch heute folge ich in ähnlichen Situationen dem Beispiel Bens, indem ich über die Schulter wegblicke, dorthin, wo nichts ist, nur daß ich den Engelsatz im stillen ausspreche und der Unfug, den der Engel in seinem stillen Ort sich anhören soll, in der Regel von mir selbst stammt.
Es ist jetzt der Moment, klarzustellen: Die so oder so stillen Orte haben mir nicht allein als Zuflucht, Asyl, Verstecke, Rückzugsgebiete, Abschirmungen, Einsiedeleien gedient. Zwar waren sie das zum Teil, von Anfang an. Aber sie waren, ebenfalls von Anfang an, zugleich etwas Grundanderes, auch mehr; viel mehr. Besonders dieses Grundandere, dieses viel Mehr hat mich ja bewegt zu dem Versuch hier, über es im Aufschreiben ein wenig, naturgemäß bruchstückhafte Klarheit zu schaffen.
Merk- oder denkwürdig noch: daß, in jener Zeit zumindest, die gleichsam offiziell oder anerkannt stillen Orte, was mich anging, ihren Namen kaum verdienten. Zwar zog es mich, gerade in der Studienzeit, immer wieder in die leeren Kirchen und Friedhöfe der Stadt. Aber von den lärmabgeschirmtesten Gotteshäusern ging, sagt die Erinnerung, nie auch bloß ein kleiner Licht- oder Wärmeschub aus; höchstens, im Glücksfall, ein liebes Gefunzel und eine flüchtige, begütigende Schwade abseits, aus den Sakristeien, zwischen deren abgesperrten Gittern durch. Fast eine Befreiung, dann wieder durch den Krach der Straßen draußen zu stromern.
Alle die fremden Friedhöfe, fremder noch bei den geschmückten Gräbern zu Allerheiligen und Allerseelen: Allerseelen regte sich und winkte und wehte heran eher bei dem Blick über die Schulter ins Leere, bei der Vorstellung der unter den Sohlen im Horizontalen pendelnden Brückenwaage,bei dem Bild der zugigen Feldhütte mit dem verrotteten Schaft von einem Gummistiefel des Großvaters oder wessen auch immer im Winkel.
Der erste Friedhof, der mich als ein Stiller Ort umgab, und was für einer, wurde das durch die Friedhofstoilette mittendrin, viel später, in Japan. Ja, zurück von den stillen Orten zu den Stillen Orten, die sich schreiben mit einem Großbuchstaben. Im Lauf jetzt der Notiertage ist mir im übrigen aufgegangen, daß während der Studienjahre, anders als oben behauptet, doch zumindest ein Stiller Ort in der Stadt Graz seinem Namen sozusagen gerecht wurde. Das war nicht eine der öffentlichen Bedürfnisanstalten, ob die beim Hauptplatz oder die vom Hauptbahnhof, welche mir eher unangenehm in Erinnerung sind, wohl auch wegen der Homosexuellen, oder was sie halt
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