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Versunkene Gräber - Roman

Versunkene Gräber - Roman

Titel: Versunkene Gräber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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heben, damit sie nicht ganz zerbrach. Ich folgte ihm in ein enges Geviert aus rohem, unverputztem Felsenstein. Der Boden bestand aus Fliesen, uralt, uneben und feucht. Ich trat auf Glasscherben. In der rechten Ecke lag etwas, das aussah wie eine völlig in sich zusammengesunkene Gestalt. Erst beim zweiten Blick erkannte ich, dass es Lumpen waren. Ein, zwei alte Decken, wie mit dem Fuß zur Seite geschoben. In der Mitte des Raumes stand eine leere Holzkiste. Altdeutsche Buchstaben waren eingebrannt. Ich strich Staub und Dreck weg und versuchte, die Worte zu entziffern.
    »Johannis… Johannishagener Nickerchen«, sagte ich. »Das war mal eine Weinkiste.«
    »Ja. Er hat sie als Tisch benutzt. Siehst du die abgebrannten Kerzen? Und hier …« Er bückte sich und hob einen fast bis zum Ende abgenutzten dreikantigen Bleistiftstummel auf. »Er hat geschrieben. Ohne Ende. Am Anfang noch mit Tinte, später mit Bleistift. Von den Dingern liegt ein Dutzend hier rum. Dazu die ganzen Späne vom Spitzen. Aber weißt du, was seltsam ist? Ich habe nichts gefunden.«
    »Das ist sicher schon längst in alle Winde zerstreut.«
    »Nein. Mein Großvater hat dieses Versteck entdeckt, als er die letzten Weinfässer abgebaut hat. Hier hat einer gesessen und sich die Finger wund geschrieben. Sogar der Scheißeimer stand noch in der Ecke, hat er erzählt, aber nirgendwo eine Spur von dem, was er geschrieben hat.«
    Jacek legte den Kopf in den Nacken und begutachtete die Decken, dann die Wände, dann mich.
    »Er ist abgehauen, irgendwann. Ich glaube, Marek hat ihn damals gesehen.«
    »Wen?«
    »Den, der hier drin war. Er war nicht die ganze Zeit hier. Sonst hätte mein Großvater mehr gefunden. Essensreste und Lumpen und Zeug. Und das, was er geschrieben hat. Nein, er ist immer wieder raus. Wahrscheinlich, um sich was zu essen zu besorgen oder Leute zu treffen, die sich auch versteckt haben. Dabei muss mein Vater ihn gesehen haben. Er war noch ein Kind. Acht, neun Jahre alt. Kommt mit den Trecks aus dem Osten, sieht Dinge, die Kinder niemals sehen dürften, hört Sachen, die Kinder niemals hören dürften. Anfangs waren meine Großeltern im Kutscherhaus. Er war oben unterm Dach. Von dort schaut man direkt auf diesen Weinkeller.«
    »Seit wann weißt du das?«
    »Seit er Schwerdtfeger angegriffen hat. Da ist mir alles wieder in den Sinn gekommen. Das, was er als Kind erlebt hat und worüber nie jemand geredet hat.«
    »Gibt es so etwas wie ein Dorfarchiv?«
    Jacek setzte sich auf die leere Weinkiste, die unter seinem Gewicht ächzte, aber sie hielt. Die Flamme zuckte noch einmal, dann ging sie aus. Das Licht der Baustellenlampe leuchtete geisterhaft durch die schmale Türöffnung und häufte die Schatten aufeinander.
    »Nein. Ich hab dir doch gesagt, hier war die Stunde null.«
    »Hast du je versucht, mit deinem Vater zu reden?«
    »Ja. Hab ich. Nach dieser Verfluchten-Sache. Er macht dann sofort dicht. Dieses ganze Gerede von den Geistern aus den Gräbern, das hat lange keinen Sinn ergeben. Für mich war das jedes Mal Märchenstunde. Aber dann, urplötzlich, steht er diesem Geist leibhaftig gegenüber. Und der Geist heißt Schwerdtfeger. Wie passt das zusammen?«
    »Er hat …«, setzte ich an, überlegte noch einmal und fuhr dann fort: »Er hat nicht Horst gesehen. Sondern jemanden, dem Horst ähnelt. Was ist dir von den Vorbesitzern bekannt?«
    Er schnaufte ärgerlich. »Nichts. Die Namen auf dem Friedhof. Das, was in Zielona Góra im Museum gelandet ist. Was die Winzer drüben am Rhein erzählen, mehr nicht. Ich will gar nicht mehr wissen.«
    »Lass uns zurückgehen in die Vergangenheit. In den Sommer neunzehnhundertfünfundvierzig. Die Zielińskis erreichen Johannishagen. Wer war das alles?«
    »Meine Großeltern mit ihrem Sohn. Marek.«
    »Er war acht, höchstens neun Jahre alt. Sie bekommen das Kutscherhaus. Wir sind immer noch im Sommer dieses Jahres. Die Eigentümer haben die Siedlung verlassen. Wann?«
    »Weiß ich nicht«, brummte er.
    »Da die Hagen-Kinder überlebt haben, gehe ich vom Anfang desselben Jahres aus. Die Kinder heißen Helmfried und Eleonore. Der Vater ist im Krieg, wahrscheinlich. Die Mutter gelangt mit den Kleinen nach Hamburg. Sie kehren nie mehr zurück.« Ich ging langsam zum Ausgang. »Konnte ein Fremder von diesem Versteck wissen?«
    »Nein. Ausgeschlossen. Alle, die sich hier ausgekannt haben, waren weg.«
    »Alle bis auf einen. Ich glaube, dass einer der Hagens hier das Kriegsende erlebt hat.«
    »Warum ist

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