Versunkene Gräber - Roman
ihren Großvater auf einmal so merkwürdig angesehen hatte.
»Haben Sie davon gewusst?«
Wovon? Lenka hatte nur Bahnhof verstanden. Zygfryd war noch stiller geworden, und diese Kuh hatte tatsächlich die Frechheit besessen, ihn morgen, am Samstag, ins Krankenhaus zu bestellen, um mit diesem Marek zu reden. Marek, der Alte aus Janekpolana, der das einzig Richtige gemacht hatte, da waren sich alle einig: diese gierigen Verbrecher vom Hof zu jagen, die einem das bisschen nehmen wollten, das man sich in langer, mühseliger Arbeit aufgebaut hatte.
Lenka überlegte, warum ihre Mutter den letzten Brief nicht auch weggegeben hatte. Warum war er der Anwältin so wichtig, dass sie ihn der Polizei gegenüber nicht erwähnt hatte? Sie hatte ihn einfach eingesteckt. Wer war hier der Dieb? Als Lenka höflich eingeworfen hatte, dass dieses uralte Schreiben immer noch Eigentum der Familie Nowak sei, war die Frau richtig fuchsig geworden. Hier geht es um mehr als ein Stück Papier, hatte sie gesagt. Um viel mehr. Ihr Großvater hatte bloß auf seine Hände gestarrt und seitdem kein Wort mehr gesprochen.
Lenka hatte sich geärgert, dass sie so viel erzählt hatte. Vor allem die Sache mit dem Schlüssel. Die schien offenbar wichtig gewesen zu sein. Ein Schlüssel. Der letzte Brief. Das Vermächtnis. Und Mama. Mama, die nachts im Flur stand und flüsternd telefonierte.
Das Mädchen trank noch einen Schluck Wasser, weil seine Kehle rau und trocken war vom vielen Weinen. Dann schlich sie in den Flur. Dort stand das Telefon. Die meisten Leute, mit denen sie gesprochen hatte, hatten angerufen, als die Todesnachricht die Runde machte. Sie drückte auf das Symbol für Wahlwiederholung, und die Nummer von Onkel Jerzy in Zielona Góra erschien. Die nächste war ein Anschluss in Cigacice. Tom hatte mit der Schule telefoniert und sich abgemeldet. Weiter. Zwei Nummern aus der Gegend, wahrscheinlich das Beerdigungsinstitut und die Kranzbinderei. Dann Krystynas Handy. Lenkas Hand zitterte, als sie die vertraute Zahlenkombination auf dem Display schimmern sah. Dies war die Trennung zwischen vorher und nachher. Gewählt am Donnerstagmittag, als sie noch geglaubt hatte, ihre Mutter sei bei der Arbeit. Trauer und Schmerz wollten sie überwältigen. Am liebsten hätte sie Krystynas Handy angerufen, nur um die geliebte Stimme auf der Mailbox zu hören. Aber der Speicher fasste bloß zehn Nummern. Dieser Anruf würde den letzten Eintrag löschen, und vielleicht war es der, den sie suchte.
Es war der achte. Eine Nummer mit der Vorwahl 0049. Krystyna hatte sie am letzten Sonntag um dreiundzwanzig Uhr neunundvierzig gewählt.
Sonntags, kurz vor Mitternacht. Jetzt war es halb eins. Der Besitzer dieses Anschlusses in Deutschland würde an den Apparat gehen. Wenn irgendeine Chance bestand, Krystynas gute Absichten zu beweisen, dann würde er abheben. Sie müsste nur das tun, was diese Anwältin Krystyna unterstellt hatte: Geld verlangen. Und dafür verraten, wo der letzte Brief gelandet war. Natürlich würde die Person am anderen Ende der Leitung empört auflegen. Dann war alles gut. Dann hatte es nie eine Erpressung gegeben.
Und wenn nicht? Es ist Finderlohn, dachte sie. Er steht uns zu. Uns allen. Mama wollte es so.
Sie holte tief Luft. Ihr Herz war völlig aus dem Rhythmus und klopfte so schnell, als wolle es ihr gleich aus der Kehle hüpfen. Sie lauschte auf die Stille im Haus. Alle schliefen. Wie konnten sie nur schlafen? Dann erinnerte sie sich daran, dass der Arzt Michal starke Beruhigungstabletten gegeben hatte. Und Zygfryd bekam ohne sein Hörgerät überhaupt nichts mehr mit. Nur Tom könnte noch wach sein. Aber dort, wo unter seiner Zimmertür ein Streifen Licht in den Flur fallen würde, war es dunkel.
Sie drückte auf Wahlwiederholung. Es knackte und rauschte, dann ertönte ein gedämpftes elektronisches Freizeichen. Sie zuckte zusammen und war einen Moment versucht, den Hörer auf die Gabel zu werfen. Sie wollte plötzlich keine Wahrheit mehr.
»Ja?« Eine Männerstimme. Kalt, skeptisch, unfreundlich.
Sie kramte alles Deutsch zusammen, dessen sie in dieser Situation noch mächtig war. »Ich weiß, was Sie suchen.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin die Tochter meiner Mutter.«
41
»Also hier. In der linken Brust. Oder doch in der rechten?«
Mutter lag auf dem Bett. Neben ihr stand ein unangerührtes Tablett mit mehreren Sorten Wurst und Käse, Bircher Müsli, frischem Obst, liebevoll aufgeschnittenen Gurken und Tomaten. Außerdem
Weitere Kostenlose Bücher