Versunkene Gräber - Roman
noch, exakt so leidend, wie ich mir das vorgestellt hatte, sagen: »Einen Arzt. Ich brauche einen Arzt!«
Ich schloss die Tür hinter mir, tappte zum Fenster und zog die Verdunkelungsvorhänge auf. Marie-Luise warf sich mit einem gequälten Laut auf die andere Seite. Sie trug eines von Mutters Nachthemden. Auf dem Boden stand die Seifenschale aus dem Duschbad, die sie zum Aschenbecher umfunktioniert hatte. Darin lag, neben einigen Kippen, der Rest eines ordentlichen Joints.
»Bist du wahnsinnig? Das sind Nichtraucherzimmer!«
Direkt über ihr an der Decke war ein Rauchmelder installiert. Nicht auszudenken, wenn er mitten in der Nacht losgegangen wäre, und dann auch noch aus so einem absolut intolerablen Grund.
»Lass mich«, raunzte sie.
»Wo hast du dieses Zeug her?«
»Welches Zeug?«
»Haschisch. Marihuana. Gras. Was auch immer.«
»Gras. Das Beste, was mir seit langem untergekommen ist.« Sie hob das Kopfkissen zum Schutz gegen das Licht und blinzelte mich an. »Von Gregor. Steht bei der Reichert auf dem Balkon. Sie hat einen grünen Daumen.«
»Gregor lässt sein Gras bei älteren, harmlosen Damen auf dem Balkon wachsen?«
»Älter ja. Harmlos? Was denkst du denn? Er besorgt die Seeds, die Reichert gießt, und stellt die Pflanzen abends unter ihre ziemlich helle Leselampe. Sie machen fifty-fifty. Sie sagt, nichts hilft besser gegen die Schmerzen in den alten Knochen. Außerdem hört sie Velvet Underground und Janis Joplin. Also bitte. Daran sollten wir uns langsam mal gewöhnen. Die älteren Damen von heute haben in Woodstock oben ohne im Schlamm getanzt. Ich bin sowieso für eine Drogenfreigabe ab fünfundsechzig. Wer bis dahin unbeschadet durchs Leben gekommen ist, wird ja wohl auch mit Gras umgehen können.«
Ich entsorgte die Reste in ihrem Badezimmer. Nachdem die Toilettenspülung alle verräterischen Indizien vernichtet hatte, ging ich zurück und riss das Fenster auf.
»Los, hoch jetzt. Meine Mutter hat gerade einen Herzinfarkt.«
»Was?«, rief sie entsetzt.
»Keinen echten. Ich will den Arzt sprechen.« Der Radiowecker zeigte neun Uhr vierzehn. »Er hat auch den alten Hagen behandelt und müsste am besten wissen, ob er unter Schluckbeschwerden litt.«
Sie stieg aus dem Bett, reckte und streckte sich und gähnte wie eine Katze.
»Mach hinne. Los. Du bist ihre Pflegerin. Also solltest du bei seinem Eintreffen zumindest neben ihr stehen.«
Genauso geschah es. Es klopfte um exakt neun Uhr siebenundzwanzig, und ein etwas untersetzter, gemütlicher Endsechziger mit rundem Kopf und Halbglatze spähte ins Zimmer.
»Frau Vernau?«, fragte er.
»Ja.« Ich deutete auf sie. »Ich bin der Sohn. Ihre Pflegerin, eine Freundin.«
Er trat ein, nickte Hüthchen und Marie-Luise zu und stellte seinen Arztkoffer neben dem Bett ab.
»Ich bin Doktor Scheuermann. Dürfte ich darum bitten, dass Sie mich und die Patientin vielleicht für einige Minuten allein lassen?«
Ich ging zur Tür und schloss sie.
»Nehmen Sie Platz, Herr Doktor. Ich habe einige Fragen an Sie.«
»Sicher, sicher. Aber zunächst möchte ich mich um die Patientin kümmern.«
Meine Mutter setzte sich auf und verlangte nach dem Frühstückstablett, das Marie-Luise ihr reichte. »Mir geht es schon viel besser.« Dann nahm sie ein Croissant und biss ihm die Spitze ab.
Marie-Luise deutete auf den zweiten Stuhl am Fenster, gegenüber von Frau Huth. »Es wird nicht lange dauern. Es geht um Helmfried Hagen. Uns sind da einige Ungereimtheiten aufgefallen«, sagte sie.
»Ungereimtheiten?« Scheuermann sah uns irritiert an und blieb stehen.
Ich beschloss, nicht lange um meine Vermutung herumzureden. »Haben Sie den Totenschein ausgestellt?«
Scheuermann wirkte überrumpelt. »Ja. Also, ja, das habe ich. Warum?«
»Was stand darauf? Tod durch Ersticken, weil mit seinen Schluckreflexen etwas nicht stimmte? Ich bin kein Arzt, bitte klären Sie mich auf.«
»Das kann ich nicht wegen der ärztlichen Schweigepflicht. Was wird das hier eigentlich? Warum bin ich hier?«
Marie-Luise reckte angriffslustig das Kinn. »Weil wir nicht an diese Todesursache glauben. Wir werden eine Exhumierung beantragen. Wir gehen davon aus, dass Herr Hagen ermordet wurde.«
»Er… ermordet?« Scheuermann nahm das Angebot sich zu setzen nun doch an. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Das wollen wir von Ihnen erfahren.«
»Ermordet? Ja, um Himmels willen! Wissen Sie, welchen Verdacht Sie da aussprechen?«
»Ja«, sagte ich ungerührt. »Deshalb: Helfen Sie uns,
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