Versunkene Gräber - Roman
die Sache aufzuklären. Oder rechnen Sie damit, demnächst vor Gericht zu stehen. Dann ist Schluss mit den vielen Privatpatienten. Ganz abgesehen davon, dass die Polizei sich jeden einzelnen Totenschein, den Sie in Ihrer Laufbahn ausgestellt haben, genau ansehen wird.«
»Erlauben Sie mal!«, protestierte er. »Was unterstellen Sie mir?«
Marie-Luise lächelte ihn an. »Vorerst gar nichts. Also, in welchem Stadium seiner Krankheit befand sich Herr Hagen?«
»Er …« Scheuermann schluckte. Verwirrt sah er zu Hüthchen, in der irrigen Annahme, vielleicht aus dieser Richtung Hilfe zu erhalten. Ihr finsterer Blick verhieß allerdings genauso wenig Gutes. »Er war krank, ja, aus meiner Sicht jedoch gut auf die Medikamente eingestellt. Eine Dysphagie lag meines Erachtens allenfalls im Anfangsstadium vor. Er konnte noch relativ klar und deutlich sprechen. Doch das kann täuschen. Als ich ihn nach seinem Dahinscheiden untersucht habe, befanden sich Bolusrückstände im vorderen Rachenbereich. Das ist typisch für diese Erkrankung …«
»Aber nicht in diesem Stadium?«, unterbrach ich ihn.
Scheuermann zuckte hilflos mit den Schultern. »Was ist schon typisch bei dieser Krankheit? Jeder kann sich mal verschlucken.«
»Warum haben Sie keine rechtsmedizinische Untersuchung angeordnet?«
»Eine Obduktion? Warum denn das? Herr Hagen war ein betagter Mann, zudem an Parkinson erkrankt. Es war offensichtlich, dass eine natürliche Todesursache vorlag. Alles andere wäre … es wäre ein zutiefst beunruhigender Gedanke für alle hier.«
Mutter stellte das Tablett weg, schlug die Decke zurück und suchte mit den Füßen ihre Pantoffeln. »Er war alt. Mehr muss man also als Arzt nicht wissen. Alles andere würde ja zu Unruhe führen. Und die will man hier nicht haben, denn nur ruhige, glückliche Alte, die nach ordnungsgemäßem Krankheitsverlauf sanft entschlafen, sind gut fürs Geschäft. – Ingeborg? Wir gehen. Ich möchte keine Minute länger in einem Haus sein, das die Ruhe seiner Bewohner über die Wahrheit stellt.«
Hüthchen warf ihr Messer auf den Teller. Scheuermann zuckte zusammen. Beide verließen hocherhobenen Hauptes das Zimmer, um sich nebenan wahrscheinlich die Ohren an der Tür plattzupressen.
»Nicht doch! Nein!« Scheuermann erkannte wohl gerade, was da auf ihn zukam. »Es war so absolut offensichtlich! So … absolut normal bei dieser Krankheit!«
»Aber doch sicher nicht in diesem Stadium!«, protestierte ich erneut. »War Hagen in der Lage, nachts in ein anderes Zimmer zu gehen und dort etwas zu stehlen?«
»Ohne Rollator oder Gehhilfe? Nachts? Nein.«
Marie-Luise stand auf. »Er wurde erstickt, und dann hat ihm jemand diese Kekse in den Mund geschoben. Ich denke, den Rest klären Rechtsmedizin und Polizei. Es wird eine Untersuchung geben. Sie können gehen.«
Scheuermann stand auf. Er tat mir leid. Alle taten sie mir leid, die reuigen Sünder, die fassungslos vor dem Scherbenhaufen standen, den sie selbst angerichtet hatten. Doch dieses Gefühl verging schnell. Er nahm seine Tasche und verließ das Zimmer.
Es war neun Uhr vierundvierzig.
»Ich gehe jetzt zu Frau Wittich. Kümmerst du dich um die beiden?«, fragte ich.
Marie-Luise nickte. »Was hast du vor?«
»Jacek und Zuzanna haben den letzten Brief vom alten Hagen aufgetrieben.«
»Himmel, was steht drin?«
»Ich weiß es nicht. Aber wir werden es bestimmt bald erfahren.«
42
Frau Wittich überwachte gerade das Eindecken der Tische. Sie hatte ihr freundlichstes Lächeln schon aufgesetzt, als ich es ihr mit wenigen Worten verdarb.
»Frau Wittich, ich werde nun zur Polizei gehen und Anzeige erstatten. Zum einen, weil Helmfried Hagen und Krystyna Nowak vor Ihren Augen in diesem Haus ermordet worden sind. Zum anderen wegen illegalem Anbau und Vertrieb von Drogen.«
Eine Besteckkiste knallte unter ohrenbetäubendem Lärm auf den Boden. Gregor stand da wie zur Salzsäule erstarrt. Frau Wittich fuhr erschrocken herum, sah die Bescherung und fuhr Gregor an.
»Bring das in Ordnung! – Herr Vernau, ich glaube, ich habe Sie nicht ganz verstanden.«
»Soll ich es noch einmal wiederholen, oder wollen wir in Ihr Büro gehen?«
Sie überlegte. Schließlich entschied sie sich für den Weg der vorläufigen Schadensbegrenzung. »Kommen Sie.«
Zum ersten Mal durfte ich vor ihrem Schreibtisch Platz nehmen. Keine Kuschelstunden mehr auf der Couch.
»Was haben Sie vorzubringen?«
»Helmfried Hagen ist keines natürlichen Todes gestorben.
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