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Versunkene Gräber - Roman

Versunkene Gräber - Roman

Titel: Versunkene Gräber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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vor noch hübsch anzusehen. Nur wenn sie lachte, hielt sie sich mittlerweile die Hände vor den Mund. Ihr fehlte ein Schneidezahn. Es würde Monate dauern, überhaupt einen Termin bei einem der wenigen Zahnärzte, die noch in Zielona Góra praktizierten, zu bekommen.
    Jedes Mal, wenn Zuzanna diese Geste der Scham bei ihrer hübschen Mutter bemerkte, wuchs ihr Zorn. Es gab genug Zahnärzte und Kieferchirurgen. Es gab auch moderne Praxen, die auf dem neusten Stand der Medizin waren und den Patienten den höchsten Behandlungsstandard garantierten. Doch sie konnten es nicht bezahlen. All das war für die wenigen Reichen und die vielen Normalverdiener aus anderen EU-Staaten, für die polnische Implantate und Kronen ein Schnäppchen waren.
    Doch im Moment lächelte Weronika nicht, sie runzelte die Stirn.
    »Muss das sein?«
    Sie mochte nicht, dass ihre Tochter mit Schwerverbrechern zu tun hatte. Zuzanna erinnerte sich nur ungern an die Diskussionen. Ihre Eltern hatten das Studium in Kraków unter großen Entbehrungen mitgetragen. Natürlich glaubten sie, dadurch ein Mitspracherecht bei Zuzannas Berufswahl zu haben. Dass sie sich ausgerechnet auf Strafrecht spezialisiert hatte und nicht eine glänzende Karriere in einer Wirtschaftskanzlei anstrebte, war eine herbe Enttäuschung und Grund zu ständiger unterschwelliger Besorgnis.
    »Er wird von zwei kräftigen Wachoffizieren in Schach gehalten. Außerdem bin ich seine Anwältin. Er braucht mich.«
    Schön wär’s. Zuzanna nahm eine Möhre aus dem Hängekorb und biss zu. Sie hatte keinen Hunger, aber der Gedanke, in zwei Stunden wieder Jacek Zieliński gegenüberzusitzen, machte sie nervös. Vor allem wenn sie daran dachte, was sie ihm unter die Nase halten würde.
    Joachim Vernau aus Berlin. Sie wurde nicht schlau aus diesem Mann. Er hielt Zieliński für unschuldig und spielte ihr gleichzeitig ein wunderbares Mordmotiv in die Hände. Wahrscheinlich wollte er damit seine Freundin entlasten, Marie-Luise Hoffmann. Eine merkwürdige Dreieckskonstellation. Wer hatte hier eigentlich was mit wem? Zieliński offenbar mit Hoffmann, und das passte Vernau nicht.
    Sie zermalmte das nächste Stück und fragte sich, ob das, was da in ihrem Bauch grummelte, Eifersucht auf eine flüchtige Mordverdächtige war. Die Frau befand sich in der desolatesten aller denkbaren Situationen und hatte gleich zwei Typen an der Hand, die alles für sie tun würden. Zuzannas Ex zahlte noch nicht einmal Alimente, und zu Alis Geburtstag war er auch nicht gekommen. Das war das Schlimmste. Ein Kind anzulügen, das nach seinem Papa fragte. Es gab Momente, da spürte Zuzanna durchaus Mordlust in sich.
    »Bleib doch wenigstens noch bis zum Essen.«
    »Ich kann nicht. Ich muss nach Poznań zurück. Das war reiner Zufall, dass ich heute hier zu tun hatte.«
    Ihre Mutter begann, die Rote Bete in kleine Würfel zu schneiden. »Ist wenigstens alles zu deiner Zufriedenheit verlaufen?«
    »Ja. Ich musste zum Grundbuchamt, wegen eines Auszugs.«
    Ihre Mutter schüttelte missbilligend den Kopf. Besagtes Dokument, der wyciag z księgi wieczystej , war noch vor einigen Jahren ein gefürchtetes Damoklesschwert gewesen und hatte vielen Menschen schlaflose Nächte beschert.
    All jenen nämlich, die ihre Häuser vom polnischen Staat gepachtet hatten. Der Bodenstreit , ein böses Wort. Ein altes Wort. Ein deutsches Wort. Angst ging um. Die größte Angst bei jenen, die am meisten verloren hatten. Im Grunde musste man diesen verfluchten Idioten von der Preußischen Treuhand dankbar sein, dass sie vor Jahren die Eigentumsfrage bis vor den Europäischen Gerichtshof getrieben – und mit Pauken und Trompeten verloren hatten. Seitdem herrschte endlich Rechtssicherheit.
    Doch es hörte nicht auf. Das Sticheln, das Rumoren, das Prozessieren. Gewiss, es hatte Ungerechtigkeit gegeben. Aber von wem war sie ausgegangen? Und was konnten die Leute aus Ostpolen für das, was die Alliierten ausgeheckt hatten? Ein ganzes Drittel des Staatsgebietes war damals, 1945, an die Sowjetunion gefallen. Zuzanna sah noch immer die großen Karten vor sich, auf die der Lehrer mit seinem Stock gezeigt hatte. Dafür hatte Polen die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße bekommen. Dort siedelten sie sich an, die Vertriebenen aus der Ukraine und Weißrussland, die Opfer Stalins, und misstrauten den Versprechen der Dritten Republik ihr ganzes restliches Leben lang.
    Zuzanna hatte tiefes Mitgefühl mit diesen Leuten. Die Jungen waren anders. In diese

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