Versunkene Gräber - Roman
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»Ich nehme an, Herr Sinter würde es begrüßen, wenn wir gleich einen Termin ausmachen könnten. Heute noch.«
»Sie haben Glück. Donnerstag und Freitag hält sich Herr Sinter in Berlin auf.«
Dann hat er Glück, Mädchen, nicht ich .
»Heute Nachmittag um vierzehn Uhr? Das ist der einzige Slot. Sonst ginge es erst wieder nächste Woche.«
Sie war ehrlich. Ich wollte Sinters Terminkalender nicht unnötig durcheinanderbringen. Etwas Entgegenkommen am Anfang würde den guten Willen, den ich zeigte, unterstreichen.
Ich hoffte, Marie-Luise würde bis zum Abend durchhalten, und sagte zu. Vielleicht hatte ich gerade die nächste Tür zu den Familiengeheimnissen der Camerers aufgestoßen. Es gab noch viele weitere. Aber ich suchte nur die eine, hinter der sich verbarg, was der alte Hagen seinem unehelichen Sohn außer einem lächerlichen Geldbetrag noch vermacht hatte. Warum er ihm einen polnischen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Ich war in Goldkorn-Laune. Ich war der Größte. Es lief einfach alles, und spätestens nachdem ich Sinter gegrillt hatte, wären Marie-Luise und meinetwegen auch Jacek trotz der Fingerabdrücke aus dem Schneider.
Ich wurde aus meinen Gedanken aufgeschreckt, weil Tiffy erschien, frisch wie der Frühlingsmorgen, in Gesellschaft ihres übernächtigt wirkenden Vaters.
»Ich habe Giorgio eine Nachricht hinterlassen«, zwitscherte sie. Giorgio musste ihr zukünftiger Gatte sein. Andere Männer mit italienischen Vornamen dürfte es seit der Verlobung nicht mehr in ihrem Leben geben. »Er wird bestimmt etwas über diese falsche contessa wissen.«
Marquardt verschwand grußlos in seinem Büro.
»Er arbeitet so viel«, flüsterte sie. »Seine Doktorarbeit.«
Ich schloss meine Bürotür und überlegte, wie ich die Zeit bis vierzehn Uhr hinter mich bringen könnte, ohne einzuschlafen. Ich rief die Fellners an. Wolfgang war am Apparat.
»Herr Vernau«, waren seine ersten Worte. »Entschuldigen Sie bitte, wenn wir gestern unhöflich waren.«
»Kein Problem.«
»Es ist nur, wenn Sie es schaffen, dass Mariechen nicht wieder als Einzige auf allem sitzenbleibt, das wäre schön.«
Mir gefiel der Gedanke ebenfalls. Vor allem der an die sechsstellige Summe, die ich in den Ring geworfen hatte. Aber davon wollte ich den beiden gegenüber noch nichts erwähnen. Es würde nur Hoffnungen wecken, von denen niemand wusste, ob sie sich erfüllen würden. In diesem Fall ging es schließlich um einen ganzen Sack voll Gold.
»Was halten Sie für den Anfang davon, wenn die Camerers Horsts Beerdigung übernehmen würden?«
»Geht das denn?«
»Seine anderen Halbgeschwister sind ebenso enge Verwandte wie Ihre Frau. Wenn Sie möchten, frage ich für Sie mal an. Dadurch entstehen Ihnen keine Kosten.«
Und ich hätte einen Grund, mir John und Sabine vorzunehmen.
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht. Ich verzichte auf mein Honorar.«
Zumindest für das erste Schreiben. Wahrscheinlich würden sie nicht reagieren. Dann könnte tatsächlich eine rechtliche Auseinandersetzung daraus werden.
»Haben Sie ein Faxgerät? Sie müssen mir eine kurze Vollmacht schicken, damit ich den Brief aufsetzen kann.«
»Nein. Aber der Kiosk unten.«
Ich gab ihm unsere Nummer. Kaum hatte ich aufgelegt, setzte ich das Schreiben an Sabine und John Camerer auf. Es enthielt im kältesten Anwaltsdeutsch die Aufforderung, die Beerdigungskosten für ihren Bruder Horst Schwerdtfeger zu übernehmen.
19
Erst löste sich nur eine Zinne. Dann brach der ganze Turm zusammen. Das Kind jauchzte, patschte mit seinen kleinen Händen auf die Reste der Stadtmauer und rief: »Noch mal! Noch mal!«
Zuzanna Makowska schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Zeit, rybko – Fischlein. Ich muss arbeiten.«
Das süße Gesicht des Mädchens, das Zuzanna so schmerzhaft liebte wie noch nie einen Menschen zuvor, verzog sich. Gleich würde Alicja weinen, und das konnte sie nicht ertragen. Schnell stand sie auf und ging in die Küche, wo ihre Mutter gerade gekochte Rote Bete schälte.
»Musst du schon gehen?«
Weronika Makowska hatte dunkelviolette Finger. Nie benutzte sie Handschuhe, selbst bei solchen Arbeiten nicht. Es würde Tage dauern, bis die Farbe verschwunden war.
»Ja. Ich muss noch zu einem Mandanten ins Gefängnis.«
Ihre Mutter war eine moderne, bodenständige Frau. Auch wenn sie nicht mehr die Figur eines jungen Mädchens hatte und sich die Zeichen der Zeit in ihrem lebhaften Gesicht immer tiefer eingruben, war sie mit Anfang fünfzig nach wie
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