Versunkene Inseln
ein eigenes Experiment zu Ende zu führen. Ich wollte einen irdischen Kaktus, eine Mammilaria colinsii, mit einer marsianischen Byrantia obesa kreuzen. Ich war jung, und es kümmerte mich nicht im geringsten, daß selbst begabtere und fähigere Botaniker als ich dieses Kunststück nicht fertigbrachten. Ich saß also an meinem Arbeitstisch, völlig in Anspruch genommen von der selbstgestellten Aufgabe, und ich sah erst dann wieder auf, als sich das Licht veränderte. Die Wände hatten ihren für den Abend programmierten Glanz angenommen, und meine übliche Essenszeit lag bereits einige Stunden zurück. Mein Magen beschwerte sich rumorend, als ich die Instrumente sorgfältig an ihren Platz zurückstellte, einige letzte Eintragungen schrieb und den Keimling in die Gedeihkammer schob. Ich verließ das Gebäude, warf mir den Lifter über die Schultern und blieb einen Augenblick lang am Rand der Säulenhalle stehen und beobachtete das abendliche Gedränge.
Der Platz und der Luftraum darüber waren voller Menschen. Sie gingen spazieren und aßen und tranken in den Cafes, in der üblichen bunten Mischung aus verschiedenen Kleidungsstilen und hier und da einem Hauch von Nacktheit. Der Glanz der untergehenden Sonne und der Schimmer der Hauswände entlang des Platzes hoben jede einzelne Person ganz deutlich hervor, gaben allen eine individuelle Aura aus Licht und Schatten, aus leuchtendem Funkeln und mattem Dunkel. Und als ich mich gerade abstoßen und über sie hin wegfliegen wollte, nahm ich die Gesamtheit dieser vielfacettierten Menge plötzlich als etwas wahr, das völlig von mir getrennt war. Ich spürte die Umklammerung meiner eigenen Haut und begriff gänzlich und total, wie ungeheuer einsam ich war, wie allein, wie sehr im Innern des Universums meiner Haut gefangen. Ich, Tia, abseits, vollkommen andersartig, unberührt, das einzige lebende Geschöpf in meiner Welt. Dieses Gefühl überwältigte mich mit der Intensität, mit der Propheten vor Tausenden von Jahren eine Begegnung mit Gott erfahren haben mußten, eine transzendentale Verschmelzung von individueller und absoluter Wahrheit. Es war eine Empfindung, die nicht in erster Linie nur den Geist erfaßte, sondern vielmehr das ganze Sein, Körper, Seele, alles. Ich erzitterte unter der durchdringenden Wirkung dieser Vision, und das Zittern verwandelte sich in ein Gefühl der inneren Stärkung und des glühenden Stolzes, der elementaren und absoluten Freude. Ich, Tia Hamley, mein Selbst, meine Identität. Mein Kosmos ist groß genug. Ich bin – eine einfache und herrliche Erkenntnis. Ein gänzlich unentgeltliches Geschenk.
Ich hob ab von der Säulenhalle, sauste empor und schlug die tollkühnsten und übermütigsten Saltos, die Sevilla je erlebt hatte, Ich zeichnete komplizierte Figuren in die Luft, stürzte dem Boden entgegen, segelte wieder hinauf und lachte und schrie vor Vergnügen. Ich durchschwamm die Abendluft, als hätte ich den Verstand verloren. Ich tauchte durch den Gischt der Fontänen auf dem Platz und versprühte einen Regen glitzernder Tropfen um mich herum, als ich wieder empor seh wirrte. Ich ließ mich auf der obersten Turmspitze der Kathedrale nieder und sang schmutzige Lieder. Ich stahl drei Orangen von einem Verkaufsstand, jonglierte mit ihnen und lachte schrill. Kurz gesagt: Ich richtete ein ziemliches Durcheinander an.
Natürlich beschwerte sich irgend jemand. Mir wurde ein strenger Verweis erteilt, und man zog meinen Lifter für einen Monat ein. Aber das war es wert: Ich bereute nichts, nicht ein bißchen.
36
„Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?“
„Haben Sie denn nicht einen Funken Verantwortungsgefühl?“
„Wo ist der Servo? Wo ist der Servo?“
„Wir haben alle Roboter nach Ihnen suchen lassen!“
„Wenn Sie sich noch einmal so verhalten, dann … dann verbiete ich Ihnen jeden weiteren Tauchgang!“
Die schimmernden Wasser des Meeres glitten an mir vorbei, als ich nach dem fünfzigminütigen Dekompressionsstop unter dem dunklen Bauch der Ilium durch den hell erleuchteten Kreis des Tauchschachtes hinaufschwamm. Der Servo folgte mir geduldig und zog meinen Beschwichtigungshappen für den oben wartenden Zerberus hinter sich her: eine verrostete Lampe aus dem großen Aufenthaltsraum von Mitsuyagas Haus, etwas, um die an Bord des Schiffes grassierende Habsucht zu besänftigen. Ich hatte die Absicht, den Unsterblichen diese Lampe als einziges Artefakt darzubieten, das ich in dem zerfallenen, verschlammten, leeren
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