Vertraue nicht dem Feind
einmal ganz still wurde. »Hallo?«
»Alice? Hier spricht Cheryl. D-du hast doch gesagt, dass ich dich anrufen darf.«
Alice wurde ganz schwindelig vor Angst. Sie rappelte sich mühsam hoch und kroch zum Bettende, wo sie sich gegen das Bettgestell lehnte. Sie konnte kaum atmen, und ihr Magen verkrampfte sich.
»Was ist los?«, fragte Reese beunruhigt.
Sie legte einen Finger auf die Lippen, damit er schwieg. »Cheryl«, sagte sie so laut, dass Reese es auch hörte, »ist alles in Ordnung?«
Cheryl begann zu weinen und stammelte: »Ja, alles ist …«
Alice legte ihre freie Hand über den Mund und hielt den Atem an.
»… cremig.«
Oh Gott. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. »Verstehe.« Sie wagte es nicht, Reese anzusehen, denn wenn sie es tat, würde sie ihre Konzentration und ihren Mut verlieren. »Schön, dass du anrufst.«
Cheryl schnappte keuchend nach Luft. »Ich würde dich – gern treffen.«
Denk nach, Alice. Verschwende keine kostbare Zeit. Reagier einfach
. »Bist du wieder in der Gegend?«
»Ich kann h-hinkommen. Hast du heute Abend Zeit?«
Alice kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Muss es unbedingt heute sein?«
»Ich weiß nicht.«
Cheryl konnte es sicher nicht schnell genug gehen, aber übereiltes Handeln würde sie nicht retten, sondern nur noch mehr Menschen in Gefahr bringen.
Reese setzte sich neben ihr auf. Er berührte sie nicht, blieb jedoch so dicht bei ihr, dass sie seine Besorgnis geradezu spüren konnte.
»Mir wäre es lieber, wenn wir das Treffen auf morgen Abend verschieben könnten.« Dann hatte Reese die Chance, sich etwas auszudenken. Bitte, lieber Gott, mach, dass er einen Weg findet.
Reese saß schweigend neben ihr, hörte zu, wartete ab.
Er vertraute ihr.
»Was meinst du, Cheryl? Morgen Abend?«
»Ich weiß nicht … Lass mich kurz … in meinen Terminkalender schauen.« Cheryl atmete schwer, und dann klang es eine ganze Weile so, als hätte sie eine Hand über das Telefon gelegt. Als Alice bereits zu befürchten begann, dass sich Cheryl nicht mehr melden würde, war sie plötzlich wieder in der Leitung. »Ich rufe dich später zurück«, erklärte sie schluchzend.
»Nein, Cheryl, warte …« Die Leitung war tot. Die Stille am anderen Ende war lauter als ein Schrei. Alice zitterte am ganzen Leib. »Oh nein. Oh nein,
nein
.«
Reese nahm ihr das Handy aus der Hand, legte es kurz ans Ohr und klappte es zu. »Das war Cheryl?«
Alice nickte benommen. Die Angst, Cheryl womöglich zu einem furchtbaren Schicksal verurteilt zu haben, war übermächtig.
»Was hat sie gesagt?«
Alice kaute auf ihrer Lippe. Offensichtlich wollte Hickson, oder wer auch immer Cheryl in seiner Gewalt hatte, nun auch sie. Warum sonst hätten sie Cheryl dazu zwingen sollen, sie anzurufen?
Vielleicht hatten sie das mit dem Rückruf ja nur vorgeschützt, um Zeit zu gewinnen und einen Plan auszuhecken. Oder um zu vermeiden, dass der Anruf zurückverfolgt wurde.
Funktionierte das bei einem Handy überhaupt? Sie hatte keine Ahnung.
Bitte, bitte, dachte sie bei sich, mach, dass wir Cheryl retten können.
Reese legte die Hände auf ihre Schultern und drehte sie zu sich um. Jetzt war er wieder ganz Polizist. Sie sah es in seinen Augen, an seiner Haltung, obwohl er nackt neben ihr auf dem Bett saß. »Alice? Du musst mir alles sagen. Sofort.«
Sie nickte, und ihr graute davor, wie er auf ihre Worte reagieren würde. »Also, was diese ganze Sache mit den Tätowierungen angeht … Ich gebe nur ungern zu, dass du wahrscheinlich recht hast.«
»
Sag es mir.
«
»Es könnte durchaus sein, dass ich in Schwierigkeiten stecke.«
Rowdy stand vor dem Tattoostudio und wartete. Der Morgennebel löste sich langsam auf, und ein neuer heißer Tag brach an. Bis zum Mittag wäre es sicher schwül wie in einer Sauna.
In der vorherigen Nacht hatte er die letzten Papiere unterzeichnet, die ihn zum neuen Besitzer der Bar machten. Jetzt gehörte sie ihm. Der Vorbesitzer hatte sich noch einige Tage Zeit erbeten, um seine Sachen auszuräumen, und danach war Rowdy offiziell der neue Chef.
Eigentlich war er ja schon Immobilienbesitzer, denn das Apartmenthaus, in dem sich seine Schwester versteckt hatte, gehörte ihm ebenfalls.
Allerdings hatte er das nur getan, damit ihre Tarnung auf keinen Fall auffliegen konnte.
Die Bar dagegen würde zukünftig seine Lebensgrundlage bilden. Seine Wurzeln. Stabilität. Ein ehrliches Leben.
Ein neuer Anfang.
Was für eine beglückende und gleichzeitig erschreckende
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