Vertraue nicht dem Feind
Ihre ganze Welt war mit einem Mal heller geworden, und sie fühlte sich, als wäre ihr ein tonnenschweres Gewicht von den Schultern genommen worden.
Sie hatte ihre schlimmste Schande einem anderen Menschen offenbart, und trotzdem hatte Reese sich nicht von ihr abgewandt. Er war ein guter Mensch und obendrein auch noch Polizist, und trotz allem verdammte er sie nicht.
Wie viel ihr das bedeuten würde, hätte sie selbst nie für möglich gehalten. »Ich glaube, ich schicke vor dem Schlafengehen noch eine E-Mail an meine Eltern.«
»Darüber würden sie sich bestimmt freuen.« Er stellte ihr ein Glas Milch hin. »Aber warum willst du sie nicht anrufen?«
»Es ist schon spät, und ich möchte sie ungern aufwecken.« Nach der langen Zeit, in der sie kaum Kontakt zueinander gehabt hatten, wollte Alice es langsam angehen lassen. Sie würde eine Mail schicken und vielleicht fragen, ob sie sie besuchen dürfe …
Vielleicht ein Wiedersehen, das nicht durch den Kummer ihrer Eltern und ihre eigenen Schuldgefühle belastet wurde.
Reese goss auch sich selbst ein Glas Milch ein und setzte sich ihr gegenüber an den Küchentisch. Seine Miene war beklemmend streng und ernst.
»Geht es dir jetzt besser?«, fragte er und nahm sein Sandwich vom Teller.
»Ich werde jedenfalls nicht mehr in Tränen ausbrechen.« Wie peinlich, dass sie seine Brust nass geweint hatte. »Tut mir leid, dass ich so die Beherrschung verloren habe.«
»Das muss es nicht.« Er verschlang das halbe Sandwich mit einem Bissen. »Ich bin froh, dass du mir alles erzählt hast.«
Das war sie ebenfalls. Es war schön, diese Bürde nicht mehr allein tragen zu müssen. »Danke, dass ich mir alles von der Seele reden durfte.«
Reese wusste, dass er sie eigentlich mehr oder weniger dazu genötigt hatte, und schüttelte den Kopf.
»Ich bin eigentlich sonst nicht so nah am Wasser gebaut.« Sie pulte an der Brotkruste herum. »Ich fand es eigentlich immer sinnlos.«
»Jeder wird doch irgendwann von seinen Gefühlen übermannt, und du hattest wirklich allen Grund dazu, traurig zu sein.«
»Ich wette, du weinst in solchen Situationen nicht.«
Er lächelte ironisch. »Nein, ich gehe stattdessen ins Fitnessstudio und stemme so lange Gewichte, bis jeder einzelne Muskel in meinem Körper schmerzt.«
Alice musterte verstohlen seinen wundervollen, durchtrainierten Körper und glaubte ihm aufs Wort. »Das hilft dir, wieder ins Lot zu kommen?«
»So kann ich überschüssige Energien verbrennen«, meinte er und zuckte mit einer seiner breiten Schultern. »Ich laufe auch gern, allerdings eher, weil es mir Spaß macht und mir hilft, nachzudenken und den Kopf freizubekommen.«
»Denkst du dabei über Dinge nach, die mit deinem Job zu tun haben?«, erkundigte sie sich und wagte dann, hinzuzufügen: »Oder über persönliche Beziehungen?«
»Vorwiegend über Berufliches.« Er drehte sein Milchglas auf dem Tisch. Seine Miene war undurchdringlich. »Vergewaltigungen, vermisste Jugendliche … Solche Fälle gehen einem manchmal mehr an die Nieren als Morde.« Er blickte auf. »Beim Großteil der Morde, mit denen wir zu tun haben, kommen Täter und Opfer aus dem kriminellen Milieu. Deals, die schiefgehen, und solche Sachen.«
Alice schlug das Herz bis zum Hals. »Du willst also damit sagen, dass es selbst dir schwerfällt, Mitleid mit einem toten Verbrecher zu empfinden?«
»Es ist sogar völlig unmöglich. Ich erledige meinen Job, verfolge alle verwertbaren Hinweise, halte mich an die gesetzlichen Vorschriften. Aber schlaflose Nächte mache ich mir deshalb sicher nicht.«
Würde er noch immer so denken, wenn er das volle Ausmaß ihrer Taten kennen würde?
Reese musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Aber ein Jugendlicher allein auf der Straße oder eine misshandelte Frau, solche Dinge verfolgen mich durchaus.«
»Passiert dir das oft?«
»Einmal ist schon zu viel. Weißt du, wir werden ständig wegen häuslicher Gewalt alarmiert. Meistens ist Alkohol mit im Spiel, und die Situation eskaliert deshalb. Oft bereut derjenige, der uns verständigt hat, es hinterher. Aber wenn man uns erst einmal gerufen hat, bleiben wir auch am Ball.«
»Das ist eine gute Verfahrensweise.«
»Ja, das finde ich auch. Man weiß eben nie, wie sich die Sache weiterentwickelt.« Er stieß den Atem aus. »Letztes Jahr hatten wir es mit einem Mann zu tun, der seine Ehefrau einmal zu oft als Boxsack missbraucht hat. Beim ersten Mal rief uns ein Nachbar, und als wir dort eintrafen, bestritt
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