Vertraute der Sehnsucht (German Edition)
Empfangsknopf auf dem Touchscreen an und gab das Passwort ein, um die V-Mail abzuspielen. Sie kam von einem der höheren Beamten des Rates, einem älteren normalsterblichen Staatsmann namens Charles Benson. Der Mann war eines der gemäßigteren Ratsmitglieder, ein Verbündeter, den Lucan bitter nötig haben würde, wenn die Verhandlungen um bessere Beziehungen zwischen den Menschen und dem Stamm später fortgesetzt wurden, lange nachdem der Pomp und Prunk des Friedensgipfels und der ganze Medienzirkus zur banalen Tagesroutine verblasst waren.
Lucan legte seinen Stift hin und sah sich die Nachricht an. Sie musste wichtig für Benson sein, wenn er ihn privat und außerdem auf der höchsten Sicherheitsstufe kontaktierte.
»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie zu Hause störe, Vorsitzender Thorne.« Das faltige Gesicht auf dem Bildschirm wirkte besorgt, die dünnen Lippen noch fester zusammengepresst als sonst, als der alte Mann sich räusperte. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Oder vielmehr den Orden. Es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit.«
Mit gerunzelter Stirn sah Lucan zu, wie Benson auf dem Monitor weiter herumdruckste. »Es geht um meinen Neffen. Vielleicht wissen Sie, dass Jeremy auf dem Friedensgipfel eine sehr wichtige Auszeichnung von Reginald Crowes Stiftung entgegennehmen wird.«
Lucans Stirnrunzeln vertiefte sich. Er wusste, wer Bensons genialer Neffe war. Wusste, dass Jeremy Ackmeyers Arbeit auf der ganzen Welt hoch geschätzt und der Mann als einer der talentiertesten Köpfe aller Zeiten betrachtet wurde – was dem jungen Wissenschaftler kürzlich einen bedeutenden Geldpreis eingebracht hatte, den ihm einer der reichsten Männer der Welt auf dem Gipfel persönlich überreichen würde. »Ich fürchte, Jeremy ist etwas … exzentrisch«, fuhr Benson auf dem Bildschirm fort. »Er ist der Sohn meiner Schwester. Seit der Junge auf der Welt ist, habe ich sie gewarnt, ihn nicht so zu verhätscheln.« Das Ratsmitglied winkte mit seiner dünnen, knochigen Hand ab, bevor er endlich zum Wesentlichen kam. »Es ist mir peinlich zu sagen, dass Jeremy sich weigert, auf der Festveranstaltung des Friedensgipfels zu erscheinen. Er ist ein ängstlicher Junge, extrem introvertiert und verschlossen, um ganz ehrlich zu sein. Er weigert sich zu reisen, aus Angst vor tödlichen Keimen. Ich dachte, vielleicht könnte ich Sie bitten, ihm eine Eskorte für seine Fahrt nach Washington zu stellen –«
»Das ist doch wohl nicht dein Ernst.« Lucan tippte auf Stopp, brach die Nachricht ab und knurrte einen Fluch.
Seit wann war der Orden ein persönlicher Chauffeur- und Bodyguard-Service für verschrobene Wissenschaftler?
Politisch unklug oder nicht, er starrte wütend auf seinen Tablet- PC , kurz davor, Ratsmitglied Benson zu sagen, dass sein paranoider Neffe diesbezüglich andere Arrangements würde treffen müssen. Aber als sein Finger schon über dem Aufnahmeknopf schwebte, wurde er von Stimmen draußen vor den hohen Fenstern seines privaten Arbeitszimmers abgelenkt.
Demonstranten.
Lucan stapfte zum Fenster und zog die langen Vorhänge auf. Offenbar war die Nachtschicht zum Dienst angetreten. Er zählte fünfzehn Männer und Frauen, allesamt Menschen – Himmel, und sogar ein kleines Mädchen mit einem Transparent hatten sie dabei, das wütende Parolen schrie. Sie standen draußen vor dem hohen Eisentor zur Straße, auf ihren Transparenten dieselben Hassparolen, wie sie dem Stamm seit nunmehr zwei Jahrzehnten entgegengeschleudert wurden: » Haut ab, woher ihr gekommen seid! Die Erde gehört den Menschen, nicht Monstern! Keinen Frieden mit Raubtieren!«
Seit der Ankündigung des Gipfels waren Demonstranten mit Sprechchören, sowohl Menschen als auch Stammesvampire, vor dem GN -Gebäude in der Nähe des Kapitols und des gesicherten Hauptquartiers des Ordens in D. C. ein alltäglicher Anblick. Aber heute Nacht, wo er schon seit Stunden über den Ratsbeschlüssen saß und ihm wegen der lächerlichen Bitte eines Mannes, auf dessen politische Unterstützung er angewiesen war, vom Zähneknirschen die Kiefer schmerzten, verärgerten ihn diese geifernden Aufwiegler mehr als sonst.
Wenigstens waren es nur Transparente und Geschrei und nicht mehr die bewaffneten Straßenkämpfe und Terroranschläge, wie sie beide Seiten verübt hatten in den Monaten und Jahren, nachdem die Menschen von der Existenz des Stammes erfahren hatten. Damals war der Krieg unvermeidlich gewesen, obwohl Lucan so gehofft hatte, ihn
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