Vertraute Gefahr
niemand, blickt sie um sich, als würde sie damit rechnen, dass jemand sie beobachtet. Wenn sie nicht abgelenkt ist, dann wirkt sie nervös und fast ängstlich. Sobald sich ihr jemand von hinten nähert, ohne dass sie es merkt, wird sie vor Schreck totenbleich und ist kurz davor wegzulaufen.« Shane brach ab und beobachtete Clint scharf. »Dir ist es auch aufgefallen.« Eine Feststellung, keine Frage.
Clint zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Ja. Hat sie dir erzählt, wovor sie Angst hat?«
Während Shane mit einer fahrigen Bewegung den Whiskey in zwei Gläser goss, dachte er über seine Antwort nach. Seufzend reichte er seinem Bruder ein Glas. »Bisher hat sie mir noch nichts erzählt. Sie scheint nicht leicht zu vertrauen, erst recht keinem Mann. Mich duldet sie nur, weil sie gemerkt hat, dass ich ihr nichts tun werde. In letzter Zeit ist sie in meiner Gegenwart etwas entspannter, doch es gibt noch immer Momente, wenn sie eine bestimmte Aktion nicht vorhergesehen hat, in denen sie einen panischen Blick bekommt. Aber es wird seltener.« Shane trank einen Schluck. »Als ich ihr damals im Fiery Furnace helfen wollte, war sie erst völlig verängstigt. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, ließ es etwas nach, aber als ich dann mein Messer gezogen habe, um an ihr Knie zu kommen, hätte es mich nicht gewundert, wenn sie trotz der Verletzung geflüchtet wäre. Ich habe mir ihr Knie angesehen und dabei die Narben entdeckt.« Shane ballte die Fäuste. »Clint, mindestens einer ihrer Oberschenkel ist über und über mit Narben bedeckt. Ich wollte sie erst darauf ansprechen, aber sie schien sich zu schämen, daher habe ich es gelassen. Wahrscheinlich hätte sie mir sowieso nicht geantwortet, es ging mich im Prinzip auch nichts an. Irgendwie muss es mir gelingen, sie zum Reden zu bringen, ich muss wissen, was sie so ängstigt. Aber immer wenn ich mit ihr darüber reden will, weicht sie aus oder es kommt etwas dazwischen.« Frustriert biss er die Zähne zusammen.
»Könnte sie einen Unfall gehabt haben?«
Shane überlegte kurz und schüttelte schließlich den Kopf. »Nein, ich denke nicht. Die Narben sahen eher aus wie … Schnitte, die nicht rechtzeitig behandelt wurden.« Er schlug sich vor den Kopf. »Genau, wie Messerschnitte …« Als ihm klar wurde, was das heißen musste, wurde ihm schlecht. »Verdammt, wenn ich jetzt noch ihre Angst vor Männern dazurechne, dann bin ich mir sicher, dass ein Mann etwas damit zu tun hatte.«
Auch Clint verzog das Gesicht. »Hört sich nicht gut an. Hat sie erwähnt, ob sie verheiratet war?«
Shane blickte ihn schockiert an. »Nein. So direkt hat sie es nicht gesagt. Aber ich hatte sie gefragt, ob im Osten jemand auf sie wartet, und sie hat verneint.«
Clint strich sich über das stoppelige Kinn. »Das sagt leider nichts darüber aus, ob es einen Mann gegeben hat oder nicht. Aber sie muss ihn natürlich auch nicht unbedingt gekannt haben.« Er trank seinen Whiskey aus und stand auf. »Am besten fragst du sie bei der nächsten Gelegenheit und lässt dich diesmal nicht abweisen. Wenn sie sich nämlich immer noch umschaut, dann ist derjenige, der ihr das angetan hat, noch da draußen.« Während Shane diesen letzten Schock verdaute, ging Clint zur Tür. »Solltest du Hilfe benötigen, weißt du, wo du mich findest.«
Damit schloss er leise die Tür hinter sich. Tief in Gedanken stellte Shane die Gläser zur Seite und ging zum Fenster. Er öffnete die Balkontür und schlenderte auf den das ganze Haus umrundenden Balkon. Tief einatmend lehnte er sich an das hüfthohe Holzgeländer. Clint hatte es geschafft, ihn erst richtig nervös zu machen. Was war, wenn Autumn wirklich in Gefahr schwebte? Würde er ihr helfen können? Sie würden spätestens, wenn sie wieder im Arches waren, darüber reden müssen. Er hoffte nur, dass er damit nicht ihre noch so zerbrechliche Beziehung zerstörte.
18
Nach einem ausgiebigen Frühstück im Familienkreis brachen Autumn und Shane mit dem Auto zum Yellowstone National Park auf. Auf dem Rücksitz lagen eine Kühlbox mit kalten Getränken und kleinen Snacks sowie Shanes Fotoausrüstung. Um zehn Uhr morgens herrschten noch angenehme Temperaturen, Schönwetterwolken durchbrachen hin und wieder den strahlend blauen Himmel. Auf beiden Seiten der Straße reihte sich Baum an Baum. Vor ihnen tauchten bald zwei Autoschlangen auf, in der Ferne waren die aus dunklem Holz gebauten Eingangshäuschen des Parks zu sehen.
Shane seufzte. »Das habe ich mir schon
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