Vertraute Schatten
sich kaum mehr daran erinnern konnte.
Sariel machte eine verächtliche Handbewegung. »Wie auch immer, Ariane, dies hier ist keine passende Mission für dich. Die Situation ist zu heikel, und wir haben keine Zeit zu verlieren. Eines Tages«, fuhr er fort und trat näher, wobei in seinen Augen fast so etwas wie Wärme aufleuchtete, »eines Tages bekommst du deine Chance, uns zu verteidigen. Das verspreche ich dir,
d’akara
.«
Sie schwieg, obwohl ihr seine Nähe allmählich unangenehm wurde. Dieser Besuch war außerordentlich ungewöhnlich, und noch ungewöhnlicher war Sariels Interesse an ihrem Wohlbefinden. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er ihr jemals groß Beachtung geschenkt hatte … was sich seit Sammaels Verschwinden zumindest teilweise geändert hatte. Eigentlich hätte sie das genießen sollen, und doch empfand sie nur einen Anflug von Abscheu.
Ein weiteres Zeichen, dass es Zeit war zu gehen.
Als ob Sariel ihre Gedanken lesen könnte, murmelte er: »Ich habe keine Ahnung, wie ich deine Schönheit so lange übersehen konnte. So viele Jahrhunderte, und nie haben wir richtig miteinander geredet.«
»Das stimmt«, erwiderte Ariane mit einem Nicken und strich sich verlegen eine Strähne ihres langen silberblonden Haars hinter das Ohr. Ihr Haar war sehr hell, selbst für eine Grigori, fast so silbern wie das der Ältesten. Sie hatte das immer eher auffällig als schön gefunden … aber so, wie Sariels Blick ihrer Handbewegung folgte, fragte sie sich, ob sie ihre Anziehungskraft auf ihresgleichen unterschätzt hatte.
Hoffentlich fasste er sie nicht an! Was sollte sie in dem Fall tun? Weglaufen war natürlich immer eine Möglichkeit, aber nicht gerade die beste, wenn der Verfolger ein zwei Meter zehn großer Vampir war.
Zu ihrer Erleichterung schien Sariel zu merken, dass er sie mit seiner plötzlichen Aufmerksamkeit überrumpelt hatte. Er kam nicht näher, aber sein interessierter Blick war eindeutig.
»Ich würde dich gern sehen, Ariane. Ein bisschen Zeit mit dir verbringen. Vielleicht morgen Abend? Nach all den Jahren wird es höchste Zeit, dass wir uns endlich besser kennenlernen.«
Vor Erleichterung wäre sie beinahe in Tränen ausgebrochen. »Gern«, erwiderte sie und brachte sogar die Andeutung eines schüchternen Lächelns zustande. »Das würde mich sehr freuen.«
Damit schien sich Sariel zu begnügen. Er nickte.
»Gut. Ich werde dann jemanden nach dir schicken.«
Er drehte sich um und ging zur Tür, blieb aber noch einmal kurz stehen und sagte mit einem Blick über die Schulter: »Mach dir keine Sorgen um Sammael,
d’akara
. Wenn er lebt, werden wir ihn finden, und so leicht kann er nicht getötet worden sein. Vertrau mir … ich kenne ihn schon sehr viel länger als du.«
Ariane nickte. »Dann hoffe ich einfach das Beste«, erwiderte sie.
Als die Tür schließlich hinter Sariel ins Schloss gefallen war, stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Erst jetzt spürte sie, wie wackelig sie auf den Beinen war. Sie beugte sich vor, legte die Hände auf die Knie und holte tief Luft. Sariels Besuch hatte sie aufgewühlt, mehr als sie das erwartet hätte. Weswegen war er wirklich gekommen? Hatte er Angst, dass sie genau das tun würde, was sie zu tun beabsichtigte? Und wenn ja, hatte er gemerkt, dass er recht hatte?
Sie konnte es sich nicht vorstellen. Doch wonach auch immer Sariel gesucht, was auch immer er gesehen hatte – an ihren Plänen hatte sich nichts geändert. Zum ersten Mal hatte sie die Wahl, und sie hatte sich entschieden zu handeln. Aber beängstigend war es – oh ja.
Doch sie war zuversichtlich, dass es auch befreiend sein würde.
Sobald sie glaubte, dass genügend Zeit verstrichen war, ging sie zu ihrem Bett und zog eine kleine, mit Perlen bestickte Umhängetasche unter der Matratze hervor. In ihr befand sich eine Handvoll Dinge, die ihr wichtig waren – die traurige Bilanz eines Lebens, das bereits so lange andauerte und doch kaum jemandem etwas bedeutete. Sie schlang sich den langen, dünnen Riemen der Tasche quer über den Oberkörper und trat dann an das Fenster, der durchsichtige Rock wehte ihr sanft um die Beine.
Kaum hatte sie den kleinen Riegel geöffnet, da schwangen schon die beiden Fensterflügel nach außen und bildeten so ein Tor in die Nacht. Ariane blieb einen Moment stehen, um sich zu sammeln. Sie hatte kein Verlangen, sich noch einmal umzudrehen und das hübsche Zimmer zu betrachten, das so lange ihre Zuflucht gewesen war. Nur zu leicht würde sie der Mut
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