Verwechseljahre: Roman (German Edition)
musste die Augen schließen. Bilder tauchten auf. Schöne Bilder, schreckliche Bilder. Er war jemand ganz anderes. Jemand, den ich vor dreißig Jahren im Arm gehabt hatte. Den ich an mich gedrückt und nie mehr hatte hergeben wollen. Er hatte schwarze Haare gehabt. Und dunkelbraune Augen. Er hatte mich unverwandt angesehen, während meine verzweifelten Tränen auf sein niedliches Gesicht getropft waren. Der Mensch, den ich so innig geliebt hatte wie niemanden sonst. Den mir diese kirchliche Organisation weggenommen hatte. Dem ich von Herzen nur das Beste wünschte. Für den ich immer noch betete, auch wenn ich mit diesem Verein nichts mehr zu tun haben wollte. Seit dreißig Jahren hoffte ich jeden Abend vor dem Einschlafen, dass er Menschen gefunden hatte, bei denen er glücklich war. Und diesen Mann hatte ich jetzt am Telefon? Er hatte mich gefunden? Warum rief er mich an? Was wollte er von mir? Das war der Moment, den ich erst jahrelang ersehnt und dann jahrelang gefürchtet hatte! Ich telefonierte mit dem Menschen, den ich verzweifelt hatte vergessen wollen und von dem ich nach wie vor jede Nacht träumte. Den ich erst vergeblich gesucht und dann aus meinen Erinnerungen verbannt hatte.
Die Einzige, die ihn damals noch gekannt hatte, war meine Mutter. Sie hatte mir in der Klinik bei dieser entsetzlichen Trennung beigestanden. Damals hatte ich nicht geahnt, dass es eine Trennung für immer sein würde. Es sollte doch nur vorübergehend sein. Bis es Mutter besser ging. Bis ich einen Job gefunden hatte. Dieses schreckliche, nie mehr angesprochene Geheimnis verband Mutter und mich. Ein Geheimnis, das mich daran hinderte, eine feste Beziehung einzugehen, eine Familie zu gründen, mich frei zu fühlen, mein Leben zu genießen. Ich fühlte mich schuldig. Jede Sekunde meines Lebens. Seinetwegen. Wegen dieses Mannes, den ich jetzt am Telefon hatte.
In meinem Kopf herrschte nichts als Chaos. Wieso hieß er Roman Stiller? Das passte doch überhaupt nicht zusammen! Er hieß doch … Nein! Wie er sich jetzt nannte, konnte ich doch gar nicht wissen! Nicht mal meine zwei besten Freundinnen Billi und Sonja kannten dieses Geheimnis. Aber dieser Mann am anderen Ende der Leitung kannte es.
Ich spürte, wie mein Magen sich zusammenzog. Minutenlang starrte ich auf die Scherben der Vase, auf die Scherben meines bisherigen Lebens. Warum? Warum heute? An einem ganz normalen Samstag im Juli? Ich presste den Hörer ans Ohr. Hatte er noch weitergesprochen? Hatte er noch etwas gesagt? Oder hatte er aufgelegt?
Er war noch dran. Er atmete. Auch er war tief bewegt. Mir war, als hörte ich sein Herz durch die Leitung schlagen. Mein Mund formte ein O. Mit letzter Kraft brachte ich meine Stimmbänder zum Schwingen und einen heiseren, krächzenden Ton hervor.
»Oliver«, flüsterte ich. »Bist du das?«
3
E s war Oliver. Es war mein Sohn.
Er hieß nur nicht mehr Oliver, sondern Roman Stiller. Und er arbeitete als Journalist bei einem Verlag in Hamburg. Aber nicht beim Stern . Es war ein sportwissenschaftlicher Verlag, der Fachbücher und Fitnessratgeber herausgab oder so was in der Richtung. Sosehr ich auch versuchte, die Informationen zu verarbeiten, so fassungslos war ich über die Tatsache, dass er mich gefunden hatte. Nach dreißig Jahren.
Ich hatte damals alles versucht, um ihn zu finden. Alles. Schon drei Monate nach dem schrecklichen Tag, an dem sie Oliver holten, hatte ich meine Unterschrift bitter bereut. Dabei hieß es doch in diesem unseligen Dokument ausdrücklich, ich erkläre mich bereit, das Kind »in Pflege zu geben«. Und nicht zur Adoption freizugeben! Aber nach drei Monaten war Oliver spurlos verschwunden. Die kirchliche Organisation wollte mir keine Auskunft geben. Das dürfe sie nicht. Im Interesse des Kindes. Ich war damals fast gestorben vor lauter Kummer. Mutter war zu dieser Zeit sehr krank gewesen. Es hieß, sie habe nicht mehr lange zu leben. Ich war knapp siebzehn. Die Kirche hatte sich gekümmert. Um Mutter. Um mich. Um Oliver. Die Kirche hatte alles geregelt. Diskret. Der alte Schmerz loderte wieder auf.
Mutter hatte überlebt. Ich auch. Während Oliver das Leben eines Roman Stiller in Hamburg geführt hatte. Er klang gebildet, war erwachsen geworden. Ich bekam bloß vage mit, was er sagte, denn ich wollte nur eines wissen, nämlich ob er eine schöne Kindheit hatte. Ob es ihm auch an nichts gefehlt hatte. Und ob seine »Eltern« lieb zu ihm waren!
»Und, Oliver, ist es dir gut ergangen?« Ich unterbrach ihn
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