Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Dabei gab es nichts nachzudenken. Er dachte aber, dass ich immer noch darüber nachdächte, und half mir folgendermaßen auf die Sprünge:
Wir
haben uns
lange nicht gesehen,
und ich
möchte dich fühlen,
an mir spüren.
Aber
zwischen uns
ist ein Stacheldraht
aus Fragen,
aus Wenns und Abers.
Ich
umarme
dich
nicht,
weil ich weder dich
noch mich verletzen will.
Ach, was für eine unschöne Situation! Ich wollte ihm auf keinen Fall wehtun. Aber ihn eben auch nicht heiraten! Leider schien es keinen Mittelweg zu geben.
»Eine Frau MUSS keinen Orgasmus haben. Sie KANN dabei auch an die Decke gucken.«
Apropos Decke: Unter der steckte Mutter mit Rainer. Also im übertragenen Sinn. Nur leider wollte er nicht SIE heiraten. Sondern mich.
2
E rst am nächsten Tag fiel mir Rainers Zettel beim Aufräumen wieder in die Hände. Instinktiv hatte ich ihn zu seinen anderen Gedichten in die Küchenschublade gestopft. Doch diesmal stand ausnahmsweise kein Gedicht, sondern eine Hamburger Telefonnummer darauf. Das Abo, genau! Ich blinzelte in den blauen Sommerhimmel. Es war Samstag, und Mutter machte ihr Schläfchen. In unserer kleinen beschaulichen Vorstadtsiedlung Butterblum standen alle Balkontüren und Fenster offen. Kinderlachen und Schaukelquietschen waren zu hören. Rainers blank geputzter grüner Ford stand in der Einfahrt. Ich meine, Männer, die Ford fahren, sollen doch einfach nur fortfahren! Aber Rainer wollte mit unserer »Beziehung« fortfahren. Welch schreckliches Missverständnis! Obwohl sein Auto da war, hörte ich nichts von Rainer. Bestimmt war er mit seinem megacoolen Elektrofahrrad unterwegs. Auch so was, das für mich gar nicht ging: Mit Helm, Knieschonern und in einem hautengen neonfarbenen Fahrraddress, der sein Beamtenbäuchlein erst recht zur Geltung brachte, pflegte mein Nachbar am Wochenende um den See zu radeln. Um sich vom Nichtstun zu erholen. Und das auch nur, um mir zu gefallen. Ich hatte irgendwann mal angedeutet, dass ich Wert auf Sportlichkeit lege und versuche, nicht aus dem Leim zu gehen. Weshalb ich regelmäßig ein Fitnessstudio besuche. Daraufhin hatte Rainer ganz schlau reagiert: Schau her, ich bin auch sportlich. Ich »bike«. Wow. Cool. Aber noch lieber setzte er sich mit seinem Notizblock auf eine Bank, packte Butterbrot und Thermoskanne aus, fütterte die Schwäne und dichtete, was das Zeug hielt.
Ich
bin ein Wanderer
auf
einsamen Straßen.
Ich
suche alles
und
will es
jetzt,
solange ich noch lebe.
Damit klang er fast schon so wie meine Mutter: Los, Kind, ich lebe nicht mehr lange. Tu was. Unterhalte mich. Kümmere dich um mich. Sonst bin ich tot, und du bist schuld.
Ich seufzte. Im Gegensatz zu meiner Mutter beharrte ich trotzig auf dem Standpunkt, a) ohne Mann leben zu können oder b) wenn schon, einen Mann von Welt verdient zu haben, egal wie alt und alleinstehend ich auch war. Doch Mutter dachte noch in diesen altmodischen Versorgungskategorien. »Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad.« Diesen Spruch hatte sie noch nie verstanden: »Fische fahren doch gar nicht Fahrrad! Aber Rainer durchaus! Schau doch nur, Kind, wie viel Mühe er sich gibt.«
Nein, eine Frau ohne Mann war für Mutter ein hilfloses Wesen, das am Hungertuch nagen muss. Sie selbst hatte diese schreckliche Erfahrung nämlich machen müssen: Als Vater starb, war ich erst vierzehn, und sie hatte große Angst, uns nicht durchzukriegen. Sie hatte keinerlei Berufsausbildung. Und dann wurde sie auch noch so krank, dass sie nicht mal putzen gehen konnte. Wir lebten zu zweit in einer Besenkammer und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Zu allem Überfluss passierte mir auch noch diese entsetzliche Geschichte. Eine Geschichte, über die ich nie, nie wieder nachdenken wollte. Nein, diese Zeit war endgültig vorbei. Ich hatte einen Schlussstrich darunter gezogen. Das Leben war weitergegangen. Schon lange.
Ich straffte mich. Die Zeiten hatten sich zum Glück geändert. Ich war nicht auf einen Mann angewiesen – weder auf seine Frührente noch auf seinen Bohrer (ich meine natürlich den vom Baumarkt). Ich verdiente mein eigenes Geld, war frei und unabhängig, liebte meine zwei besten Freundinnen Billi und Sonja, die ich regelmäßig im Fitnesscenter traf, konnte mit einem Computer umgehen und eine Zeitschrift abonnieren. Wenn es denn sein musste, auch über das Internet. Ach, wie schön es jetzt wäre, den neuesten Stern zu lesen, ganz in Ruhe auf dem Balkon. Wie schön es doch wäre,
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