Verwüstung
wie ein halber Mensch, nackt bis auf die Knochen.
Mira ging hinüber zu dem Regal, in dem Annie und sie einige Vorräte verstaut hatten. Sie waren nicht geordnet, zumindest nicht so, wie Sheppard es machen würde, und sie ging sie durch, hoffte, auf eine Taschenlampe zu stoßen. Oder eine Kerze. Oder irgendein Relikt früherer Zivilisationen, das für Licht sorgen würde – Stöcke, die sie aneinander reiben könnte, Feuersteine, was auch immer. Ihr Bedürfnis nach Licht erschien ihr als zwingend, als genauso entscheidend für ihr Weiterleben wie Wasser.
Überrascht und erfreut entdeckte sie ein Päckchen Aromatherapie-Kerzen in verschiedenen Farben. Sie hatte sie gekauft, als sie in einer kurze Phase völliger Verwirrtheit nach ihren Erfahrungen mit der Verrückten ihr Heil bei Feng-Shui gesucht hatte. Sie hatte gehofft, den Gesundheits-, Wohlstands- und Beziehungsbereich zu Hause und in ihrem Geschäft stärken zu können. Doch selbst mit einem Kompass in der Hand hatte sie sich in der Richtung geirrt und die falschen Farben verwendet, die repräsentierten, was sie erreichen wollte. So viel zu ihrem kurzen Kontakt mit Feng-Shui.
Mira riss die Schachtel auf und entzündete eine rote Kerze, stellte sie auf den Boden, dann entzündete sie blaue, grüne und gelbe Kerzen. Mit ausreichend Licht konnte sie endlich sehen, was zum Teufel sie trieb, und wühlte den Rest der Ausrüstung durch. Plastikbesteck, Pappbecher und -teller, Mülltüten, ein Glas Instant-Eistee. Alles nutzlos. Mira begutachtete Toilettenpapier, Papierservietten, Kleenex-Schachteln und da, unter mehreren Rollen Papiertüchern, fand sie Annies Schweizer Taschenmesser. Sheppard hatte es ihr vor mehreren Monaten anlässlich eines Pfadfinderinnen-Ausflugs geschenkt.
Mira packte es mit der rechten Hand und ging zur Tür. Das Ohr an das Holz gelegt, lauschte sie, sie versuchte herauszufinden, wo Franklin war. Aber sie konnte nur die Katzen miauen hören, und Ricki winselte, alle waren dicht vor oder sogar im Schrank. War das ein gutes Zeichen? Oder hieß es, dass die Eindringlinge sich im Büro befanden und die Tiere in den Schrank gesperrt hatten?
Würde Ricki nicht wie verrückt bellen, wenn sie im Büro wären? Vielleicht nicht, nachdem Franklin auf sie geschossen hatte.
Sie lauschte noch intensiver und versuchte, die Tiergeräusche auszublenden. Sie hörte das gnadenlose Wüten des Sturms und hatte das Gefühl, in einer riesigen Muschel gefangen zu sein, die das Echo der sich brechenden Wellen enthielt und das grausame Ruckeln der tektonischen Platten am Grunde des Ozeans.
Mira legte ihre flache Hand an die Tür und bat stumm um Informationen, Eindrücke, irgendetwas, ganz egal, einfach irgendetwas. Sie spürte einen heftigen Ruck in ihrem Nacken, als hätten unsichtbare Hände die Seiten ihres Kopfes gepackt und ihn nach hinten gezogen, und verschwand plötzlich abrupt anderswohin.
… Dreckspennerhataufmichgeschossen … Zuckenschmerzenkeinemuskelkontrollepisseohgottohgott … wo ist mein Baby … oh, Gott, Gott … Schmerz …
Mira warf sich auf den Boden und rollte umher, sie versuchte, die Intensität von Tia Lopez’ Gefühlen abzuschütteln. Sie glaubte, zu ersticken oder zu ertrinken oder unter brennend heißem Sand begraben zu werden. Sie knallte gegen die Wand, erhob sich auf die Knie, die Hände, zog durch zusammengebissene Zähne Luft ein.
Dann tauchte sie, während ihr Geist schrie, wieder in Tia Lopez ein.
Tia, Schluss damit, hör auf, du bist nicht allein.
Dummes weißes Mädchen ging und …
Hier ist Mira, beruhige dich, es ist in Ordnung, lass mich helfen. Helfen wir einander.
Häh? Wa… raus aus meinem Kopf, du Spukfrau!
Hilf mir. Komm, wir haben das schon einmal gemacht, du und ich. Öffne die Augen. Lass mich Annie und Nadine sehen. Hey, bist du noch da? Bist du da? Hallo?
Mira hörte Atmen, das nicht ihr eigenes war, einen hämmernden Herzschlag, der nicht zu ihr gehörte. Der Geschmack von scharfem Chili erfüllte ihren Mund, und so vollständig, dass die Düfte in ihren Nebenhöhlen brannten und ihre Augen zu tränen begannen.
Du bist in meinem Kopf, diesmal bist du wirklich drin …
Lass mich deine Augen nutzen, deine Ohren, bitte …
Wo ist er? Wo ist Franklin?
Du kannst sehen, was ich sehe?
Wenn du mich lässt. Wo ist Franklin?
Nicht hier drinnen. Es hat an der Tür geklingelt.
Die blöde Weiße ist da, sie hat das Gewehr. Mehr weiß ich nicht.
Meine Tochter, lass mich Annie sehen …
Dunkelheit.
Weitere Kostenlose Bücher